Der kranke Gesunde
leichter, wenn es ein gutes Quantum Verbundenheit und Nähe, also »Wir« gibt und ein ebenso gutes Quantum Abstand und Distanz, also »Ich«; sonst »erstickt« man am »Wir« oder fühlt sich einsam als isoliertes »Ich«.
Manche Systeme betonen das eine (»Wir machen alles zusammen und denken gleich.«), manche das andere (»Jeder ist für sich selbst da und keiner redet dem anderen rein.«). Besser ist natürlich eine Ausgewogenheit beider Richtungen.
Komm mir nicht zu nahe. Emotionale »Nähe« kann Angst machen; sie zu wollen oder zu erfahren, kann mit Scham verbunden sein. Das schließt nicht aus, dass gleichzeitig ein großes Bedürfnis nach körperlicher oder psychischer Intimität, Nähe und Geborgenheit besteht, das erfüllt werden will. Körperliche Beschwerden können hier gute Dienste leisten: Pflegen, bei Schmerzen massieren, Kranke versorgen heißt auch, in engen Kontakt zueinander kommen. Diese Art der Nähe kann dann ohne Angst und Scham gelebt werden. Der Kranke fühlt sich vielleicht wohl, wenn er in der Fürsorge des anderen Nähe spürt. Und der Gesunde fühlt sich in seiner fürsorgenden Zuwendung dem Kranken nahe. Das sind allerdings halbierte oder durch Krankheit »erzwungene« Intimitäten.
Gemeinsamkeit ist gut – Abstand ist schlecht. Das ist das andere Extrem. Man verbringt dann viel Zeit miteinander, teilt sich viel und möglichst alles mit, auch Intimeres, hat möglichst keine Geheimnisse voreinander und berührt, umarmt und »kuschelt« viel. Es gibt Stunden und Zeiten, wo das guttut. Das kann einem aber auch zu viel werden bis hin zum Gefühl der Psyche, dass sie sich im Schmelz des »Wir« aufzulösen droht. Da die Psyche ihren Wunsch nach Distanz und Abstand dann aber nicht äußern darf, ohne die »Wir-Regel« der sozialen Welt zu verletzen, kann ihr der Körper mit einem Symptom zur Seite springen: Symptome können auch für Distanz sorgen. Man geht nicht mit zum gemeinsamen Feiern, weil dem Körper übel ist oder muss wegen der Behandlung des »chronischen Schmerzes« gleich ganz für einige Wochen in die Klinik (d. h. endlich einmal weg vom »Wir«).
Tipp
Mögliche Missverständnisse in Bezug auf diese Regeln
Wir wollen hier zwei Missverständnissen vorbeugen, die oft entstehen, wenn man solche Familienregeln benennt. Erstens darf man in solchen Regeln nicht einseitig die Ursache von Beschwerden sehen. Erst im Zusammenwirken mit anderen Faktoren können sie zu deren Entwicklung beitragen. Deshalb kann zweitens in der Befolgung solcher Regeln auch keine »Schuld« an der eigenen oder an der Erkrankung anderer liegen. Oft aber ist die Veränderung solcher Regeln ein »Königsweg« dazu, in der »Welt des Sozialen« die Veränderungen vorzunehmen, die dann zu Änderungen in der Psyche einiger Systemmitglieder führen, was dann wiederum solche im Körper zur Folge hat. Der Körper wird dann buchstäblich davon befreit, sozialen Regeln zu dienen. Ob sich dabei ganze Familienmitglieder das Recht herausnehmen, gegen einzelne Regeln zu verstoßen oder ob das ganze System sich zu einer Veränderung einer Regel entschließt, ist von Fall zu Fall verschieden.
Kranken- und Gesundenrolle
Das Kranksein ist eine Erfahrung, die nur die Psyche selbst mit ihrem Körper machen kann. Sie kann das »Kranksein« nur erkennen, wenn sie auch das »Gesundsein « kennt – und umgekehrt. Beim Kranksein stellt die Psyche am Körper dann z. B. fest: Schmerzen, Schlappheit, Hitze, Übelkeit, Schwindel usw. An diesem inneren Kranksein eines Systemmitglieds können anderePersonen nicht direkt teilnehmen. Sie erhalten in der sozialen Welt aber über bestimmte Kanäle Informationen darüber, dass, wie und wie sehr eines ihrer Mitglieder in seinem Körper krank ist. Und dafür hat jedes System Regeln. Dem »Kranken« wird ab sofort eine Sonderrolle zugesprochen, die dieser einfordern oder auch ablehnen kann. Die »Gesunden« schrauben ihre Erwartungen an den »Kranken« zurück, entlasten ihn, nehmen Rücksicht und zeigen Formen der Zuwendung, die man einem »funktionierenden Gesunden« nicht gibt. Ob der Kranke diese Sonderrolle angenehm oder unangenehm findet, ob Gesunde ihm diese gern oder ungern geben, hängt allein von der Psyche der Beteiligten und ihren diesbezüglichen Erfahrungen ab.
ÜBUNG
Die Familienrunde
Wir schlagen an dieser Stelle eine Übung für alle vor: die Familienrunde. In der Übung geht es darum, sich zuerst rund um das psychosomatische Symptom der alten Gewohnheiten und der
Weitere Kostenlose Bücher