Der kranke Gesunde
Welt
Wir schauen uns jetzt das Paar »Psyche und Körper« in der sozialen Welt an, in der diese beiden leben. Hier geht uns weniger um die zeitlichen Zusammenhänge »vorher – nachher«, sondern um Rollen und Spielregeln in Systemen rund um das Thema »krank – gesund«. Dazu bedarf es eines weiten Blickwinkels und einiger Kenntnisse vom Funktionieren sozialer Systeme, also von der »Welt 3« in unserem Dreiweltenmodell.
Ein Hase sitzt auf einer Wiese,
des Glaubens, niemand sähe diese.
Doch im Besitze eines Zeißes,
betrachtet voll gehaltnen Fleißes
vom vis-a-vis gelegnen Berg
ein Mensch den kleinen Löffelzwerg.
Ihn aber blickt hinwiederum
ein Gott von fern an, mild und stumm.
(Christian Morgenstern: Vice versa)
Wie in dem kleinen Gedicht der Hase nur das Feld, der Mensch Hase und Feld und Gott schließlich den Menschen, den Hasen und das Feld sieht, so wollen wir jetzt Psyche und Körper als Mitglieder der sozialen Welt von Partnerschaft und Familie sehen. Oft verstehen wir als Therapeuten erst dann, warum ein Patient trotz vieler Therapieversuche seine Beschwerden weiter hat, wenn wir ihn und sein Symptom als Teil seiner Partnerschaft oder seiner Familie kennenlernen. Dass damit keine Schuldfrage gestellt und Partner oder Familienangehörige ins schlechte Licht gerückt werden sollen, wird (hoffentlich) deutlich werden.
Info
Die systemische Sichtweise
Wir nutzen dabei vor allem Erfahrung und Wissen, das die Schule der Paar- und Familientherapeuten gesammelt und in ihren sogenannten »Systemtheo rien« dargelegt hat. Diese sieht das Leiden, das ein Systemmitglied »befallen« hat, von Anfang an als Element eines Paar- oder Familiensystems an. Aus dieser Sicht kommt man rasch zu Ideen, welche Rolle ein Symptom in einem solchen System haben könnte oder auf welche Weise ein System sich seine »Kranken« auch selbst erschafft. Oder man kommt zu Ideen, warum es in einem System noch eine Weile einen »Kranken« braucht. Das schließt die Verantwortung der einzelnen Systemmitglieder für ihr Tun und Lassen nicht aus, nimmt aber doch eine ganz andere Sicht ein – eben die der Mitgliedschaft von Psyche und Körper in der Gemeinschaft. Ein derartiger Perspektivenwechsel in der Betrachtungsweise ist für Patienten und auch für etliche Experten manchmal sofort einsichtig und manchmal schwer verdaulich. Letzteres dann, wenn sie sich daran gewöhnt haben, ausschließlich in der Kategorie von »Krankheiten« zu denken, die kuriert werden sollen.
Doris' Kopfschmerz als »Familienmitglied«
Sehen wir uns dazu noch einmal das Paar Doris und ihren Partner Fabian an, dem wir schon im Kapitel »Neue Fragen stellen« begegnet sind. Doris und Fabian sind ein »modernes Paar«, sie leben seit vielen Jahren zusammen, sind aber nicht verheiratet. Beide sind freiheitsliebend und haben sich geschworen, sich gegenseitig die Freiheit zu lassen und sich nicht einzuengen, wie sie es bei ihren Eltern gesehen hatten. So etwas wie Eifersucht oder Verlust an Selbstständigkeit sollten gar nicht erst aufkommen. Doris hat immer wieder Migräneattacken. Nun will Fabian am Wochenende an einer Fortbildung teilnehmen. Sie ist damit einverstanden. In der Nacht von Freitag auf Samstag bekommt sie Migräne. Da die Schmerzen stärker werden, bleibt er von sich aus am Wochenende zu Hause. Er tut dies gern für sie. Sie bedauert das für ihn, freut sich aber auch.
Was wir außerdem von den Spielregeln ihres Zusammenlebens wissen: Diese sehen nicht vor, dass man viel über Gefühle zueinander spricht; darin bleiben sie den Spielregeln ihrer Herkunftsfamilien ähnlich. Zärtlichkeiten zeigensie eher nebenbei oder nur im Rahmen ihres Sexuallebens. Negative Gefühle werden laut ihrem Reglement nicht angesprochen, um Konflikte und Auseinandersetzungen zu vermeiden und vor allem, um den Partner nicht unnötig einzuengen. Doris wird dann eher brummelig und spröde, Fabian still und nachgiebig. Am Anfang ihrer Partnerschaft hatten sie einmal eine Krise, als er vorübergehend eine Beziehung mit einer Kollegin einging. Sie bemerkte es, er beendete darauf diese Beziehung. Beide haben nie wieder darüber gesprochen.
Fabian hat Schuldgefühle, Doris hat Angst
Fabian – genauer: die Psyche von Fabian – macht sich immer noch Schuldgefühle deswegen, und Doris hat Angst, so etwas könnte wieder geschehen. Diese Gefühle werden im Rahmen ihrer Übereinkunft über Dinge, die den anderen belasten könnten, zu schweigen, nicht ausgesprochen. Doris'
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