Der kranke Gesunde
wie von seinen Auslösern. Das gilt auch für die Reaktionen des Körpers. Während die Psyche allerdings oft »weiß«, von welchen Konsequenzen sie ihr Verhalten steuern lässt, weiß sie das bei ihrem Körper eher nicht. Ein Beispiel: Die Psyche sagt nicht »Nein« dazu, dass der Chef Überstunden verlangt. Sie weiß, damit erreiche ich, dass er gut über mich denkt und mich bei der nächsten Gehaltserhöhung berücksichtigt. Diese positive Konsequenz steuert ihr »Ja« zu den Überstunden, auch wenn sie sich selbst schon oft gesagt hat: »Du musst auch mal nein sagen!« Auch Körperreaktionen werden von Konsequenzen gesteuert, die ihnen folgen. Nur hat der Körper darüber kein Wissen, und der Psyche bleiben diese Zusammenhänge zwischen Körperreaktion und Konsequenzen oft verborgen. Wenn z. B. körperlicher Schmerz und Schmerzverhalten dazu führen, dass ein Mensch von Pflichten und Lasten befreit wird, fällt etwas Negatives weg. Wenn man dafür auch noch Zuwendung und Trost bekommt, kommt auch noch etwas Positives dazu. Die psychologische Forschung hat gezeigt, dass solche »Steuerungen durch Konsequenzen« auch bei Körperreaktionen funktionieren, die die Psyche nicht bewusst steuern kann (sogenannte »unwillkürliche Reaktionen«), z. B. Muskelspannungen oder Säureproduktion.
Kombiniert man alle diese Erkenntnisse, kommt man zu folgendem Ergebnis: Körperliche Symptome können auch deshalb auftreten, weil das Soma dadurch etwas für sich oder die Psyche erreicht, was es ohne Symptom nicht gäbe. Das funktioniert, ohne dass die Psyche das mitbekommt. Manchmal erreicht das Soma sogar etwas Positives für die Psyche, von der diese gar nicht bemerkt hat, dass es gut für sie ist. Oder sie »darf« es nicht wissen, weil ihr das peinlich wäre. Nicht jeder Psyche gefällt z. B. der Gedanke, sie brauche Trost, Entlastung oder Aufmerksamkeit. Dann holt das Soma das eben für die Psyche und diese wäscht sich die Hände in Unschuld (und beklagt sich vielleicht auch noch über das Körpersymptom).
Für Betroffene ist die Erkenntnis, dass die verhassten Symptome auf verdeckte Weise positive Konsequenzen einbringen können, daher manchmal befremdlich oder peinlich. Sie kennen ja nur deren negative Seiten und haben sich auf diese konzentriert.
»Entlastung gibt es nur, wenn man leidet«
Oliver: »Ich habe schon von meinem schrecklichen Schmerzwochenende erzählt und geschildert, was dem vorausging (siehe → S. 153 ). In der Therapie ging es auch darum, was den Schmerzen folgte: An dem Wochenende sagte ich alle Termine ab. Alleine in meiner Wohnung konnte ich mich nicht ablenken. Ich nahm Schmerzmittel, die aber kaum Besserung brachten, und trank Bier. Ich fühlte mich hundeelend und rief meinen Bruder an. Der kam und kümmerte sich um mich. Ich hatte große Angst vor meiner Zukunft.
Mein Bruder beruhigte mich. Seine Anwesenheit tat mir gut. Ich war auch froh, die Termine abgesagt zu haben. Erst im Nachhinein wird mir klar, dass ich alle Absagen mit meinen Schmerzen begründet hatte. Ohne Schmerzen hätte ich meinen Bruder nicht angerufen, das schöne lange Gespräch mit ihm nicht gehabt und hätte stattdessen für andere geschuftet. Mir wird klar, dass ich das in meiner Familie gelernt hatte: Entlastung gibt es nicht, wenn man noch fit ist oder nur weil man es will. Das gibt es nur, wenn man es sich mühevoll verdient hat oder wenn man leidet. Nach diesen Regeln hatte auch mein Vater gelebt! Eigentlich habe ich alle diese Erkenntnisse meinen Schmerzen zu verdanken. In der Therapie entwickelte ich den Mut, bei meinem Arbeitgeber vorzusprechen und mit ihm über andere Arbeitskonditionen zu verhandeln. Die Schwerstarbeit hatte ich ja lange genug gemacht. Nun verlangte ich, dass das für mich vorbei sei. Das ist nur ein Beispiel, wozu ich Nein sagen lernte. Nun kann ich mich tatsächlich mehr meinen Beziehungen widmen, statt immer nur zu arbeiten.
Welche Vorteile bringen Olivers Rückenschmerzen?
Olivers Schilderung zeigt, welche ihm (bisher) nicht bewussten Vorteile er seinen Schmerzen zu verdanken hat:
Er kann »Nein sagen«, weil er Kreuzschmerzen hat.
Er ist abgelenkt von anderen Sorgen.
Er hat einen Grund für seine Unzufriedenheit und eine Rechtfertigung für seinen Alkoholkonsum.
Im positiven Sinne zwingen ihn seine Schmerzen am Ende zu Veränderungen in seinem Lebensstil und zu einer größeren Lebenszufriedenheit, die er ohne Schmerzen vielleicht nie eingeleitet hätte.
Psyche und Körper in der sozialen
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