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Der Krankentröster (German Edition)

Der Krankentröster (German Edition)

Titel: Der Krankentröster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen von der Lippe , Gaby Sonnenberg
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erworbenen Bibliothek und dem Dessert in die Mitte des Ladens, links von mir quatscht ein junger Türke oder Araber eine Kroatin zu, wobei er außerordentlich anmutig gestikuliert. Nahezu jedes Wort wird nachgestellt. Rechts plappern zwei Kopftuchmädchen, eine davon außerordentlich hübsch. Der Kuchen ist schon mal gut, was haben wir denn da alles zu lesen? Eine neue Zeitung namens »Philosophie«. Schon mal eine schöne Antwort auf die Frage »Was ist Philosophie?« gibt Frau Heider, Religionspädagogin: »Philosophieren ist das, was meine Schüler in der dritten Klasse machen, wenn sie spontan fragen, wer Gott gemacht hat.« Viel schöner kann man das nicht sagen. Auf den Seiten elf und zwölf, betitelt mit Zeitgeist-Radar, finden sich hochinteressante Miniessays, bestehend aus einem Faktum und einer anschließenden Wertung. Beispiel: »Stadtmädchen, in China starb ein zweijähriges Mädchen an den Folgen eines Autounfalls. Überwachungskameras filmten den Hergang. Sie wird von zwei Autos überrollt, die weiterfahren, kein Passant kümmert sich um sie.« 1903 analysierte der deutsche Soziologe Georg Simmel die Situation des Großstadtmenschen so: »Wie ein maßloses Genussleben blasiert macht, weil es die Nerven so lange zu ihren stärksten Reaktionen aufregt, bis sie schließlich überhaupt keine Reaktion mehr hergeben, so zwingen ihnen auch harmlosere Eindrücke durch die Raschheit und Gegensätzlichkeit ihres Wechsels so gewaltsame Antworten ab, reißen sie so brutal hin und her, dass sie ihre letzte Kraftreserve hergeben. Die so entstehende Unfähigkeit, auf neue Reize mit der ihnen angemessenen Energie zu reagieren, ist eben jene Blasiertheit.« Auch schön eine Anmerkung des Philosophen Thomas S. Kuhn, die der Autor auf die Tatsache münzt, dass womöglich Einsteins These wackelt, nach der nichts sich schneller als das Licht fortbewegen könne: »Unser Wissen über die Welt wird nicht ständig größer. Vielmehr gibt es immer wieder Paradigmenwechsel, die unser Weltbild von Grund auf erneuern.« Die ganze Zeitung, zumindest diese erste Nummer, ist voll von äußerst anregendem Denkstoff und macht viel Lust auf mehr. Kaffee und Kuchen sind konsumiert, ich packe zusammen. Von links kommt die Gesprächspartnerin des Gestenreichen und möchte ein Autogramm, dadurch wird in der hübschen Türkin rechts der Verdacht zur Gewissheit, dass sie mich kennt. »Sie machen Fernsehen!« Aber der Name fällt ihr nicht ein. Bei diesem Phänomen bin ich immer zwiegespalten: Ist sie schon in jungen Jahren dement, oder habe ich in ihrem jungen Leben einfach eine zu wenig merkenswerte Spur hinterlassen. Jedenfalls verweise ich sie, statt einfach den Namen zu sagen, an einen Mann in den besten Jahren mit adipösem Sohn. Beide grüßen mich herzlich. Das Gedächtnis dicker deutscher Durchschnittsmänner ist also dem juveniler, gazellenhafter türkischer Schönheiten überlegen. Auch ein Trost. Auf die Länge kommt es an. So heißt ein weiteres Buch aus dem Wunderzeitungsladen mit »Tiny Tales« von Florian Meimberg. Die Klolektüre schlechthin. Die abgeschlossenen Geschichten, von Psychothriller über Lovestory bis zum Endzeitepos, enthalten 140 Zeichen. Drei Sätze, die Pointe oft im letzten Wort. Gefällt mir richtig gut.
    Hier ein paar Kostproben: »Eines Morgens stand ein Schneemann in ihrem Vorgarten. Außerdem war ihr Mann weg. Ein Zusammenhang, der ihr erst im März klar werden sollte.«
    Oder: »Die Tätowierungen waren ungewöhnlich detailliert. Fasziniert begutachtete er die fremdartigen Symbole. Dann durchschnitt er die Nabelschnur.« Und: »Er schwebte auf das Leuchten zu. Es stimmte: der Tunnel. Das helle Licht. Nun war es also vorbei. Eine Stimme ertönte: Es ist ein Junge!«
    Zugabe: »Die Kreatur hatte die Straße verwüstet. Schnaubend stampfte das Monster davon. Die Überlebenden flüchteten. Zurück in den Ameisenhügel.«
    Einer geht noch: »Sie sah aus dem Fenster: Tief Daisy hatte die Welt ins Schneechaos gestürzt. Frau Holle schmunzelte. Und das war erst das Kopfkissen.« Ist auch ein schönes Weihnachtsgeschenk.
    Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
    Jürgen

    Hi,

    WOW! Das war aber toll zu lesen! Mal schauen, ob ich da mithalten kann. Ich werde jetzt erst mal den Witz auswendig lernen, denn morgen ist Chefarztvisite. Aber vorher muss mir noch jemand erklären, wie ich mit meinem Handy filme. Ich bin technisch so unbegabt. ☺

    Meine momentane Adresse ist das Klinikum rechts der Isar. Aber nur

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