Der Krater
herauf. Die letzten drei Nächte hatte er im Moto’s in Doppelschichten gearbeitet, direkt nacheinander, und um das zu überstehen, hatte er sich heimlich einen Screwdriver nach dem anderen genehmigt. Trotz der Überstunden verdiente er nicht genug, um seinen überfälligen Anteil an der Miete zu bezahlen. Er brauchte diese Abfindung von der NPF , und zwar schnell. In seiner wenigen Freizeit war er auf Jobsuche gegangen und hatte wie besessen über den Bildern auf der Festplatte gebrütet, sie verfeinert und immer weiter verbessert. Er hatte kaum geschlafen. Und obendrein vermisste er Marjory Leung fürchterlich und dachte Tag und Nacht an ihren langen, nackten, quicklebendigen Körper. Er hatte ein halbes Dutzend Mal mit ihr telefoniert, aber es war klar, dass die Beziehung keine Chance hatte – obwohl sie gute Freunde blieben.
Er kämpfte gegen den Drang, endlich zu schlafen, raffte sich auf und sah nach der Post. Deprimierend dünne Antwortbriefe auf seine Bewerbungen und Anfragen. Er brauchte einige Willenskraft, um den Stapel vom Tisch zu nehmen, den ersten Brief aufzureißen und die erste Zeile zu lesen. Er knüllte den Brief zusammen, ließ ihn fallen, öffnete den zweiten, den dritten, den vierten.
Der Haufen zerknüllter Blätter zu seinen Füßen wuchs.
Der sechste und letzte Brief ließ ihn innehalten. Er war von der Personalabteilung des CalTech, die auch die NPF verwaltete. Zuerst dachte er, das müsse der Scheck über seine Abfindung sein, doch als er den Umschlag aufriss, fand er nur einen Brief darin. Ungläubig überflog er ihn und blieb schon am ersten Absatz hängen.
»Die Prüfung Ihrer Akte und der Begründung für die fristlose Entlassung durch Ihren ehemaligen Vorgesetzten bei der NPF hat ergeben, dass Sie keinen Anspruch auf die in Ihrem Arbeitsvertrag vereinbarten Abfindungsleistungen oder Ausgleichszahlungen für nicht genutzte Urlaubstage haben. Wir verweisen diesbezüglich auf Bestimmung 4.5.1 bis 6 im
Handbuch für Angestellte
…«
Er las den Brief zweimal durch und warf ihn auf den Tisch. Das durfte nicht wahr sein. Die schuldeten ihm ein halbes Monatsgehalt an Abfindung und zwei Wochen Ausgleich für Urlaub, den er nicht genommen hatte: über achttausend Dollar.
Nach sechs Jahren Graduiertenstudium und achtzigtausend Dollar an Studentenkrediten schlief er im Kellerloch eines Freundes und hatte keine fünfhundert Dollar mehr auf der Bank, keine Stelle, keine Aussichten und einen so dicken Stapel bis ans Limit belasteter Kreditkarten, dass sie nicht mehr in seine Brieftasche passten. Und jetzt konnte er nicht einmal die ausstehende Miete bezahlen.
Langsam, unerbittlich, wuchs seine Wut. Diese Drecksäcke von der NPF würden bezahlen. Sie schuldeten ihm achttausend Dollar, und er würde sein Geld bekommen, so oder so. Es musste eine Möglichkeit geben, es denen heimzuzahlen.
Die Tür ging auf, und sein Mitbewohner stand vor ihm. »He, Mark, tut mir leid, dass ich dich schon wieder wegen der ausstehenden Miete nerven muss, aber ich brauche das Geld. Jetzt.«
Mark Corso stand mit seinen Koffern vor dem alten Backsteinhaus seiner Mutter in Greenpoint, Brooklyn, und klingelte an der Tür. Der Kater hatte sich inzwischen voll entfaltet, seine Augäpfel pochten, sein Mund war wie mit Kleister gefüllt. Er hatte sich nicht überwinden können, sie vorher anzurufen. Drinnen hörte er schlurfende Schritte, Schlösser klickten, und dann drang die bebende, unsichere Stimme seiner Mutter zu ihm heraus.
»Wer ist da?«
»Ich bin es. Mark.«
Das letzte Schloss wurde geöffnet, und da stand seine Mutter, klein, rundlich und mit stahlgrauem Haar. Ein Strahlen breitete sich über ihr Gesicht. »Mark!« Sie schlang die Arme um ihn und erstickte ihn beinahe, während sie ihn zweimal an sich drückte. Sie roch nach frischer Pasta und hatte Mehlstaub an den Armen. »Was hast du denn da, Koffer? Ziehst du wieder bei mir ein? Steh nicht da draußen in der Kälte herum, komm doch rein! Bleibst du nun hier, oder bist du nur zu Besuch? Du siehst so müde aus!« Eine weitere Umarmung, diesmal mit einem Anflug von Tränen.
Sie führte ihren folgsamen Sohn ins Wohnzimmer und schob ihn aufs Sofa.
»Ich mache dir erst mal dein Lieblingssandwich, Erdnussbutter und Marshmallow-Creme. Bleib du schön hier sitzen und ruh dich aus. Du bist ja so dünn!«
»Mir geht’s gut, Mom.«
Corso zog die Schuhe aus, streckte sich auf dem Sofa aus, faltete die Hände hinter dem Kopf und starrte zu den Wirbeln des
Weitere Kostenlose Bücher