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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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die Sprache wurde von ihr nicht verschont. Aus »Sauerkraut« machten die Amerikaner »liberty cabbage«, also »Freiheitskohl«. Für »Hamburger« fanden sie einen ähnlich patriotischen Namen. In Minnesota lynchte ein Bürgerkomitee sogar einen Geistlichen, weil er mit einer Sterbenden, die kein Wort Englisch verstand, ein deutsches Gebet gesprochen hatte. Der Krieg streckte seine Klauen nach allen Bereichen des Lebens aus und David wollte nicht, dass Rebekka noch einmal in irgendeiner Weise Opfer dieser Bestie wurde. Also lehrte er sie Englisch.
    Wenn Rebekka einmal nicht bei ihm war, beobachtete er gedankenverloren das gläserne Windspiel über seinem Bett, manchmal stundenlang. Hin und wieder schloss er die Augen und ließ sich von seiner Sekundenprophetie sagen, wann der nächste Glockenton erklingen würde. Gelegentlich veränderte er auch die Farbe der gläsernen Stäbe und Kelche oder er versuchte Melodien zu spielen, indem er ihre Schwingungen langsamer und damit die Töne tiefer machte. Einmal hätte ihn Bekka dabei fast erwischt. Angelockt von dem seltsam veränderten Klang des gläsernen Mobiles, lugte ihr dunkler Haarschopf plötzlich durch den Vorhang. Nur weil David ihr Auftauchen vorhersah, konnte er das Windspiel überstürzt wieder zurückverwandeln.
    Irgendwann fiel es David unangenehm auf, dass man ihm eine Sonderbehandlung angedeihen ließ. Sein Separee erschien ihm angesichts des offenen Krankensaals der anderen Patienten mit einem Mal wie eine Gefängniszelle. Auch wurde er den Verdacht nicht los, dass Mutter und Tochter Rosenberg sich seine vorzügliche Beköstigung vom Munde, respektive von ihren eigenen kargen Rationen absparten. Als er bei Marie gegen seinen Sonderstatus protestierte, ließ sie ihn wissen, sie werde den Retter ihrer Tochter notfalls bei sich zu Hause am Bettgestell festschnallen und ihn dort von einem sehr gewissenhaften Mädchen aus der Schnabeltasse füttern lassen. Ob ihm das lieber sei? David bat nie mehr um Haftverschärfung.
    Rebekka versorgte ihren Patienten nicht nur mit Brot, Gemüse und in Wasser aufgelöstem Trockenmilchpulver, sondern auch mit Neuigkeiten aus aller Welt. Nachdem sie erst einmal wusste, was ihrem Retter mundete, schleppte sie Nachrichten aus aller Herren Länder an. David hatte keine Ahnung, woher ein dreizehnjähriges Mädchen all diese Informationen bezog, und manchmal beschlich ihn der Verdacht, sie denke sich das alles nur für ihn aus, um ihn zu unterhalten. Bald verwarf er diese Idee wieder, denn warum sollte Rebekka Nachrichten erfinden, die ihre eigenen Gefühle so sehr in Erregung versetzten.
    Einmal berichtete sie von Ereignissen, die schon länger zurücklagen, aber David trotzdem nur als vage Gerüchte in Erinnerung waren. Er saß mit dem Rücken am Kopfende seines Bettes, Rebekka am Fußende. Zwischen ihnen lag ein Schachspiel. Es war ein wunderschöner Maimorgen, den die Sonne so sehr verwöhnte, dass selbst die schmalen Fensterschlitze des Krankensaals unter der hereindrängenden Lichtflut fast zu bersten schienen. Irgendwie war das Gespräch auf die Pogrome gekommen, die Anfang des Jahrhunderts tausende Juden aus Russland und Osteuropa fliehen und in den Vereinigten Staaten von Amerika ihr Heil suchen ließen. Die Rosenbaums waren ebenfalls Juden. David wusste das und er hörte den sorgenvollen Unterton in Rebekkas Stimme.
    »Aber diese Massaker liegen zehn und mehr Jahre zurück. Seitdem wurde viel für die einfachen Menschen getan. Überall blüht der Sozialismus auf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine solche Barbarei sich heute wiederholen könnte.«
    »Und wie nennst du das, was im Großen Krieg geschieht?«
    »Jetzt lenkst du vom Thema ab, Bekka. Ich weiß sehr wohl, dass die Grausamkeiten auf den Schlachtfeldern kaum zu überbieten sind, aber wir haben vom Massenmord an Unschuldigen gesprochen. Als Soldat habe ich kein einziges Mal erlebt, dass man derart unbarmherzig mit Zivilisten umgegangen ist.« David merkte selbst, wie die jüngeren Erfahrungen seiner Stimme die Überzeugungskraft raubten. Und dann ließ ihn eine Bemerkung Rebekkas aufhorchen.
    »Du hast wohl die Armenier vergessen?«
    David runzelte die Stirn. Er hatte zwar von 1915 an bis zu seiner Verabschiedung in den Krieg hier und da von einigen Übergriffen der Türken auf diese christliche Volksgruppe gehört, aber aus Rebekkas ernstem, fast zornigem Gesicht sprach eine Empörung, die gewichtigere Ursachen haben musste. Behutsam – er wollte das

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