Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Mädchen nicht noch mehr beunruhigen – fragte er nach den Hintergründen ihrer Bemerkung. Was er darauf von ihr erfuhr, war eine schockierende Nachricht.
Während an der Westfront hunderttausende streng nach Vorschrift uniformiert, damit legitimiert und anschließend liquidiert worden waren, hatte sich am anderen Ende Europas eine Tragödie abgespielt, die jeder Regel der Menschlichkeit Hohn sprach. Zwischen 1915 und 1916 wurden unter dem türkischen Sultan Mehmed V. fast anderthalb Millionen Armenier umgebracht. Er war damit in die Fußstapfen seines großen Bruders Abd il-Hamid getreten, der die Armenier schon Ende des letzten Jahrhunderts massakriert hatte, weil sie nicht in sein Bild von einem starken und homogenen Imperium passten. Die Armenier waren ja Christen, die Sultane alles andere als das. Erschwerend kam noch hinzu, dass diese »Ungläubigen« im Großen Krieg mit den Russen sympathisierten. Also veranstaltete Mehmed Hetzjagden. Menschen wurden wie Tiere erschlagen, zu hunderttausenden nach Syrien und Palästina getrieben. Unterwegs verhungerten oder verdursteten über eine Million, Erschreckend war das Tempo, zu dem sich der »kranke Mann am Bosporus« dabei aufschwang. Es gehört wohl zur rätselhaften Arithmetik des Grauens, weshalb seine Höchstleistung hinter der seiner späteren Nachahmer fast in Vergessenheit geriet. Das Jahrhundert hatte ein neues Wahrzeichen bekommen: den Völkermord.
David und Rebekka mochten das bestenfalls ahnen, und selbst das genügte schon, um sie in ein minutenlanges betroffenes Schweigen zu hüllen. Ein beklemmender Gedanke machte sich in Davids Kopf breit: Konnte es sein, dass einzelne Männer wie Houston Stewart Chamberlain Wegbereiter für derart menschenverachtende Pogrome waren? Dieser Kulturphilosoph hatte sich durch antisemitische Schmähschriften der allergehässigsten Art hervorgetan. Er rühmte sogar das Germanentum als höchste Verkörperung einer »westarischen Rasse«, die er in tödlichem Konflikt mit der fremden, angeblich alle Kulturen zerstörenden jüdischen Rasse wähnte. David erinnerte sich gerade an ihn, weil er in Portsmouth, also in England, geboren worden war, aber er wusste auch, dass es praktisch überall, wo der Nationalismus und der Imperialismus wucherten, ähnliche Ideenträger gab. War es möglich, dass Männer wie Chamberlain zu Kristallisationspunkten für ein in seinen Ausmaßen noch gar nicht vorstellbares Unheil werden konnten? Wenn dies wirklich der Fall wäre, dann – David erschrak –, dann könnte schon ein relativ kleiner Kreis sehr einflussreicher Personen sogar eine globale Katastrophe heraufbeschwören. Ein Geheimbund wäre genau das richtige Werkzeug dafür. Eine verschworene Bruderschaft wie der Kreis der Dämmerung.
In den Tagen nach der tiefgründigen Unterhaltung mit Rebekka musste David viel über das Vermächtnis seines Vaters nachdenken. Er verspürte den unbändigen Drang etwas gegen den Kreis der Dämmerung zu unternehmen.
Gleichzeitig litt er unter seinem jetzigen Status. Er war immer noch Soldat. Ein Abschiedsgesuch würde bei den zuständigen Stellen erst zu Heiterkeitsausbrüchen und anschließend zur Ablehnung führen. Sobald Marie ihn also für kampftüchtig erklärte, würde er sich wieder zum nächstgelegenen Schützengraben begeben müssen. Wie viele Monate mochte der Krieg wohl noch dauern?
Von Rebekka hatte er erfahren, dass die Vereinigten Staaten nun jeden Tag tausende von Soldaten nach Europa brachten. In Davids früherem Frontabschnitt waren die Anfangserfolge der deutschen Frühjahrsoffensive zum Erliegen gekommen. Weiter südlich war die Lage allerdings noch weniger stabil. Doch mit dem Nachschub an »Menschenmaterial« würden die Alliierten den geschwächten Mittelmächten bald überlegen sein. Aber in diesem Krieg hatte man sich schon oft genug im sicheren Vorteil gewähnt. Wer konnte schon wissen, welche teuflischen Waffen sich das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut als Nächstes ausdachte?
David fühlte sich nun täglich stärker und gesünder. Allmählich beschlich ihn die Vermutung, Marie fessele ihn nur deshalb ans Bett, damit ihm das Schlachtfeld erspart bliebe. Als er sie am Sonntag, dem 26. Mai, ganz offen danach fragte, bestätigte sie seinen Verdacht.
»Du hast Rebekka vor dem vielleicht Schlimmsten bewahrt, was einer Frau passieren kann. Ich lasse nicht zu, David, dass sie dich an die Kanonen verfüttern.«
»Aber…!« David dämpfte seine Stimme, damit ihn die
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