Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
benötigte, dann brachte sie es trotzdem. Kein Zweifel, sie hatte einen Narren an ihm gefressen.
Noch am Tage seines zweiten Erwachens musste David eine drängende Frage loswerden.
»Der deutsche Gefreite, dem ich mein Schwert in die… na, du weißt schon. Er hatte mir kurz vor seinem Tode etwas gegeben.«
»Du meinst den Brief?«, half Rebekka.
»Hast du ihn etwa gelesen?«
»Er war noch in deiner Hand, als du bewusstlos geworden bist. Ich habe ihn an mich genommen. Und da… Warte!« Rebekka sprang vom Stuhl. Ihr langes Kleid wallte auf, als sie zur Wand lief, wo an einem Nagel der Bügel mit Davids Uniform hing.
»Wir mussten deine Taschen leeren, als wir deine Kleider säuberten und ausbesserten. Aber keine Angst, bis auf den Brief habe ich nichts gesehen – Mama hat alles weggeschlossen. Hier, ich habe ihn in die rechte Außentasche gesteckt.«
Anstatt den Bügel einfach von der Wand zu nehmen, öffnete sie den Knopf über der rechten Brust, hob die Klappe der Tasche und stellte sich auf die Zehenspitzen, um hineinspähen zu können.
»Da ist er ja«, sagte sie vergnügt, zog den Brief heraus und kehrte damit zum Bett zurück.
David öffnete den zweimal gefalteten Zettel. Schon als er die ersten beiden Worte las, schnürte sich ihm die Kehle zu. »Könntest du ihn mir bitte vorlesen?«, bat er Rebekka.
Sie nahm ihm den Abschiedsbrief des Gefreiten ab, überflog kurz den Inhalt und sah David traurig in die Augen. Der nickte noch einmal, wie zur Bestätigung, dass er stark genug war, die letzten Worte des Menschen zu ertragen, den er selbst aus dem Leben gestoßen hatte.
Rebekka holte tief Luft und las den Brief langsam, aber fließend vor:
Liebe Mutter!
Wenn du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr unter den Lebenden.
Bewegt verfolgte David die melancholischen Schilderungen des jungen Soldaten. Er erklärte seiner Mutter und den beiden Schwestern, die er später im Brief erwähnte, weshalb er sein Studium abgebrochen und sich voll naivem Optimismus zum Militär gemeldet hatte, beschrieb ohne großes Pathos die Phase seiner Desillusionierung angesichts der Kriegsschrecken und endete schließlich mit jenen Abschiedsworten, die David nie vergessen sollte.
Weint nicht um mich, denn ich bin im Reiche des Lichts, und warum da trauern. Es kam der Krieg und ich zog mit vielen anderen Kameraden auch hinaus und war getreu bis in den Tod. Da ich diese Zeilen schreibe, weiß ich noch nicht, wo mein Grab sein wird; kümmert euch nicht um meine sterblichen Reste. Mögen sie in Schutt und Trümmern vermodern und wieder zu Staub werden, die Seele lebt und ist göttlich. Mögt ihr noch lange leben auf der schönen Welt! Grüßt alle, die ich lieb gehabt und die mir nahe standen. Feinde habe ich nicht gehabt, wie ich hoffe. Und nun seid nicht traurig, denn in einer kleinen Weile werden wir uns wieder sehen.
Ich grüße euch und bin bei euch im Geiste.
Johannes.
David konnte lange Zeit nichts sagen. Erst jetzt verstand er die erstaunliche Ruhe, die Johannes Nogielsky im Augenblick des Todes ausgestrahlt hatte. Auch wenn er, David, diese Vorstellungen von der göttlichen Seele nicht teilen konnte, bewunderte er doch den jungen Mann für den inneren Frieden, der ihn bis zuletzt erfüllt hatte. Feinde habe ich nicht gehabt. Diese Worte waren wie flüssiges Blei in Davids Eingeweiden. Nachdenklich wanderte sein Blick zu den beiden Schwertern am Bettpfosten hin. Angesichts dessen, was er mit ihnen angerichtet hatte, verspürte er wenig Lust sie jemals wieder in die Hand zu nehmen. Es war schon bewundernswert. Selbst ihn, den Boten des Todes, hatte Johannes nicht hassen wollen, ihm sogar noch vergeben. Als David die Hand nach dem Brief ausstreckte, stand für ihn fest, dass er alles tun wollte, um der trauernden Mutter diese letzte Nachricht ihres Sohnes zukommen zu lassen.
Im Laufe der Zeit wurde David immer kräftiger. Bald konnte er auch wieder auf dem Rücken liegen. Von Marie wusste er inzwischen, wie knapp er dem Tode entronnen war. Das Bajonett des deutschen Gefreiten hatte seine Lunge, die Hauptschlagader und das Herz nur um Haaresbreite verfehlt. Johannes Nogielskys Attacke glich im Nachhinein eher einem komplizierten chirurgischen Eingriff. Und dennoch: Hätte es da nicht noch ein anderes Phänomen gegeben, wäre David vermutlich trotzdem gestorben.
Fasziniert hatte die Ärztin ihm erzählt, sein Herz befinde sich auf der »verkehrten« Seite. Als Medizinerin und
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