Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Wissenschaftlerin musste sie natürlich anmerken, dass die Pumpe ohnehin fast in der Mitte lag. Aber Maries weniger rationale Hälfte erkannte staunend an, dass die bei David minimal stärkere Orientierung des Organs nach rechts ihm das Leben gerettet hatte. Das Bajonett war dadurch zwischen Zwerchfell und Lunge, dicht neben der Aorta, eingedrungen, ohne größeren Schaden anzurichten. Marie war jedes Mal aufs Neue hingerissen, wenn sie an Davids Krankenbett über die Ergebnisse ihrer Untersuchung referierte.
Für ihn war dieses Wunder nur eines in einer langen Reihe von unerklärlichen Ereignissen. Auf dem Wege vom Totgeglaubten zu einem der jüngsten Kriegsveteranen gelangte er zu einer wichtigen Entscheidung: Er musste endlich seine Bestimmung als Jahrhundertkind akzeptieren.
Auf dem Weg zu dieser Einsicht war ihm noch einmal das unerquickliche Gespräch mit dem fahrigen Feldgeistlichen eingefallen, der ihn nach Nicks Tod wieder zu einem gut funktionierenden Soldaten hatte machen wollen. Die aus dem Zusammenhang gerissenen Bibelzitate hatten David der Kirche nur noch mehr entfremdet, aber etwas von den wirren Worten des Geistlichen war bei ihm dennoch hängen geblieben: die Geschichte vom störrischen Propheten Jona. Nur um sicherzugehen, ließ er sich von Rebekka eine Bibel besorgen und las den Bericht noch einmal nach. Und wirklich: Wie Jona vor Gottes Anweisung, so war auch er geflohen, hatte gleichsam drei Tage im Bauch des Todes zugebracht und war am Ende doch wieder ausgespuckt worden. Der Prophet hatte sein Schicksal angenommen, dem göttlichen Auftrag gehorcht.
Zufällig stieß er beim weiteren Blättern in der Bibel auf die Stelle in der Offenbarung, wo es hieß: »Du bist würdig, o Herr, Herrlichkeit und Ehre und Macht zu empfangen, weil du alle Dinge erschaffen hast, und zu deiner Freude existieren sie und wurden sie erschaffen.«
David war bewegt, regelrecht fiebrig. Erst der Prophet Jona und dann diese Worte: Zu deiner Freude existieren sie. Die Gedanken in seinem Kopf begannen völlig neue, aufregende Muster zu bilden. Endlich glaubte er einen Sinn in seinem Leben zu erkennen. Kein Wunder, dass der Gedanke, auf dem Zollstock des eigenen Lebens bis zum letzten vorherbestimmten Skalenstrich zu wandern, so niederschmetternd für ihn gewesen war. Er hatte ja dabei nur auf sich geachtet, einzig für sich selbst gelebt.
Ganz langsam, wie ihm erst jetzt bewusst wurde, war er dann in ein anderes Leben geglitten, eines, das den eigenen Vorteil hintansetzte. Er hatte über Nick gewacht und dutzenden Menschen das Leben gerettet. Durch die grausamen Fehlschläge war ihm das lange Zeit verborgen geblieben. Doch nun, rückblickend, bemerkte er seine eigene Verwandlung. Er war ein Mensch geworden, der sich von Liebe leiten ließ, der sich für andere – zuletzt für diese quirlige Rebekka – aufgeopfert hatte. Und darüber war ihm der Wunsch zu sterben abhanden gekommen.
Nun hatte er auch die Reife erlangt sich seiner größeren Bestimmung zu stellen: Er war geboren worden, um einhundert Jahre zu leben. Dieses Leben war keine Hinterlassenschaft, wie sie manch undankbarer Erbe so gedankenlos verschleuderte. Es war ein wertvolles Gut, gewissermaßen ein Kapital, das er mit Bedacht einsetzen musste, um eine große Aufgabe zu erfüllen: den Kreis der Dämmerung zu entlarven und unschädlich zu machen.
Doch dazu musste er erst einmal richtig gesund werden. Und anschließend? Nun, wenn der Krieg erst vorüber war, würde er für Belial selbst zum Exterminans werden, zum »Vernichter« und »Entferner«, wie der Feldgeistliche erklärt hatte. Er hatte sogar schon eine Idee, wie er unauffällig die Witterung des Kreises der Dämmerung aufnehmen und, falls nötig, über die ganze Welt verfolgen konnte. Mit dem Camden-Vermögen würde er auch über die nötigen Mittel hierzu verfügen.
Von dem Tage an, da Davids Entschluss gefasst und sein Lebenswille neu entfacht war, machte seine Genesung schnelle Fortschritte. Dabei war Rebekka für ihn weiterhin eine große Hilfe. Ihre Lebenskraft schien regelrecht in ihn hinüberzufließen. Obwohl er das spürte, ahnte er doch in diesen Tagen bei weitem nicht, wie viel wichtiger sie in Zukunft noch für ihn werden sollte.
Jetzt atmete er einfach ihre unbeschwerte Art und revanchierte sich mit täglichen Englischlektionen. Rebekka hatte ihm von einigen Auswüchsen der Kriegspropaganda in den USA erzählt, über die in den französischen Zeitungen berichtet worden war. Sogar
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