Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
den Zeigefinger an die Lippen und deutete mit dem Kopf zum Vorhang hin, hinter dem ohne Zweifel mehr als sechzig Ohren lauschten. »Pst! Das ist ein großes Geheimnis. Seid mir nicht böse, aber ich denke, es wäre in unser aller Interesse, wenn wir dieses Thema nicht hier in der Öffentlichkeit besprechen.«
Nie wieder Krieg!
»Heute vor einer Woche haben die Deutschen London bombardiert.«
David sah besorgt in Balus Gesicht. Eher beiläufig registrierte er das verbesserte Englisch des Inders. »Gab es viele Tote?«
»Wie viele sind ›viele‹, Sahib?«
David schluckte. Obwohl er es nicht wahrhaben wollte, hatte der Krieg auch ihn abgestumpft. Er nickte betrübt. »Einer, würde ich sagen.«
Sie befanden sich im Haus der Rosenbaums, das sich im Zentrum von Hazebrouck befand. Der Bauernhof, auf dem David Rebekka zweimal getroffen hatte, gehörte ihren Großeltern. Es war früher Sonntagabend. Um die Gäste vom Hunger abzulenken, hatte Rebekka gerade eine Etüde auf dem Klavier zum Besten gegeben. Dann endlich rief Marie zum Essen. Auf dem Tisch stand ein kunstvoll zubereitetes Huhn, das sich auf wundersame Weise in den Kochtopf ihrer Haushälterin verirrt hatte – in diesen Zeiten eine kulinarische Rarität sondergleichen. Balu Dreibein lehnte trotzdem ab. Als Hindu könne er sich nie ganz sicher sein, ob er mit einem Tier nicht seine eigene Großmutter verspeise. Deshalb tat er sich lieber an den Schwarzrüben gütlich.
David hatte einen ruhigen Augenblick genutzt, um Balu hinsichtlich seiner prekären Lage zu instruieren. Er wolle nicht, dass die Rosenbergs seinen wahren Namen erführen, verlangte er. Balu nickte: Ja, Sahib. Außerdem habe er allen Anlass zu vermuten, dass seine Eltern ermordet worden seien und ihm das gleiche Schicksal drohe, wenn er sich zu erkennen gebe. Das sei doch bestimmt nicht in Balus Sinne? Der schüttelte energisch den Kopf: Nein, Sahib. Schließlich wolle er noch anmerken, sagte David zuletzt, dass er Rebekka und Marie sehr mochte und auf keinen Fall die Aufmerksamkeit irgendeines wahnsinnigen Killers auf sie lenken wolle. Das verstünde Balu doch sicher? Der nickte abermals: Viel zu gefährlich, Sahib.
So bekamen Rebekka und ihre Mutter an diesem Abend also eine sorgsam zensierte Fassung von Davids Lebens- und Leidensgeschichte aufgetischt. Ja, er gehörte dem englischen Adelsstand an. Seine Eltern waren allem Anschein nach Opfer eines Gewaltverbrechens geworden, das die gesamte Familie auslöschen sollte, aber er hatte überlebt. Deshalb war er von zu Hause weggelaufen. Deshalb hatte er sich freiwillig zum Militär gemeldet. Deshalb war er letzten Endes auch verwundet worden.
Balu erzählte – übrigens auf raffiniert unpräzise Weise –, was sich inzwischen in London getan hatte. Das gesamte Dienstpersonal von Davids Eltern sei Dank des beharrlichen Einsatzes des Familienanwalts schon kurz nach dem Brand in neue Stellungen gekommen. Er selbst, Balu, und das Dienstmädchen Elsa hätten bei dem treuen Freund selbst Unterschlupf gefunden.
Sir William habe auch seine nicht unerheblichen Beziehungen spielen lassen, um David zu finden. Nachdem er dessen Brief erhalten hatte, konzentrierte er seine Recherchen natürlich auf die Royal Army. Lange Zeit ergebnislos. Doch dann schnappten seine Agenten immer mehr Berichte von einem weißhaarigen Soldaten auf, die zu haarsträubend waren, um sie zu ignorieren. Einige der Befragten wussten von seltsamen Schwertern zu berichten, die der junge Soldat immer bei sich trug und doch niemals benutzte. Von da an war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Anwalt den Rekruten David Milton aufgespürt hatte.
Nun warf er sein ganzes Gewicht – und der Sahib wisse, was dies bedeute – in die Waagschale, um den Schützen Milton in die Heimat zurückzuholen. Manche Beamten waren auf diesem Ohr völlig taub, aber hier und da konnte diesem Leiden schon durch vergleichsweise geringe Dosen von »Schmiermitteln« abgeholfen werden. Balu grinste voller Stolz, dass ihm dieses Wort eingefallen war.
»Und jetzt bin ich hier, Sahib«, schloss er seinen Bericht.
»Dann darf ich also wirklich nach Hause«, sagte David glücklich, obwohl er diese Nachricht schon am Morgen erfahren hatte.
»Und mir bleibt das Erschießungskommando erspart«, fügte Marie trocken hinzu.
Rebekka und Balu sahen sie bestürzt an.
Die im Lazarett immer so gestrenge Ärztin hob, verschmitzt lächelnd wie ein kleines Mädchen, die Schultern und sagte: »Keine
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