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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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zu arbeiten?«
    David war gerade in ein Minenfeld getappt und erst jetzt wurde ihm das bewusst. Diese Frau hatte gewiss schon oft für ihre Rechte kämpfen müssen. Beschwichtigend murmelte er: »Nein, nein, ich habe nur noch nie eine Medizinerin gesehen.«
    »Du gehörst doch wohl nicht etwa zu diesen Chauvinisten aus dem letzten Jahrhundert, die glaubten, einer Frau würden die Haare ausfallen, wenn sie ihr Gehirn zum Studieren benutzt.«
    »Es gibt auf jeden Fall mehr Männer mit einem Kahlkopf als Frauen.«
    »Das liegt aber daran, dass sie biologisch degenerierter sind. Schließlich ist Eva Gottes neuestes Modell, nicht Adam.«
    »Ach!« David zeigte sich angesichts des leidenschaftlichen Plädoyers für die Emanzipation der Frau sichtlich verwirrt. »Meine Mutter sagte auch immer, die Frauen sollten sich nicht alles gefallen lassen«, sagte er kleinlaut.
    »Nicht alles gefallen lassen?« Marie warf den Kopf zurück und lachte laut. »Das dürfte wohl kaum reichen, David! Das Mannsvolk hat zwar die Sklaverei größtenteils abgeschafft, aber die Frauen werden immer noch wie Leibeigene gehalten. Als Zeichen eurer Macht über das weibliche Geschlecht schnürt ihr uns in enge Korsetts. Ihr zollt dem Bewunderung, was oben und unten herausquillt: ein ausladendes Dekolletee und ein ansehnliches Hinterteil.« Mit einem Mal stockte die temperamentvolle Ärztin und sah ihren jungen Patienten erst prüfend, dann beinahe erschrocken an.
    »Wie alt bist du eigentlich, David?«
    Der Gefragte fühlte sich, als hätte ihn gerade ein Tank überfahren. »Achtzehn«, kapitulierte er.
    »Aber… Bekka kennt dich doch schon seit letztem Frühjahr. Seit wann kämpfst du in diesem Krieg, David?«
    »Am 1. Juni sind es zwei Jahre.«
    Auf Marie Rosenbaums Gesicht spiegelte sich ein Wechselbad der Gefühle. Erst war sie entsetzt, dann von Mitleid bewegt und schließlich peinlich berührt. Sie lächelte verschmitzt – ganz Rebekkas Mutter – und sagte: »Vielleicht hätte ich einem Minderjährigen die weibliche Anatomie nicht ganz so anschaulich schildern sollen.«
    »In der Westminster-School wurden wir bereits mit vierzehn aufgeklärt«, versetzte David gekränkt. Die Erinnerung an diese Begebenheit ließ ihn plötzlich schmunzeln. Um möglichen Fehlinterpretationen seitens der Medizinerin zuvorzukommen, sagte er schnell: »Du hast es bei deinem Studium bestimmt nicht leicht gehabt.«
    »Das kannst du laut sagen, David! Allerdings hatten wir an der Sorbonne eine starke Fürsprecherin. Sagt dir der Name Marie Curie etwas?«
    Und ob er das tat! Als begeisterter Leser von naturwissenschaftlichen Aufsätzen war die als Marya Sklodowska in Warschau geborene Wissenschaftlerin David sehr wohl bekannt. »Sie hat doch sogar einen Nobelpreis gewonnen, oder?«
    »Einen?«, antwortete Rebekkas Mutter in gespielter Empörung. »Sie besitzt sogar zwei davon. 1903 hätte man sie beinahe noch übersehen, als Pierre, ihr Mann, zusammen mit Professor Becquerel die Auszeichnung für Physik bekam. Erst als ein Mitarbeiter des Nobelpreiskomitees auf sie hinwies, registrierten die Herren Juroren überhaupt, dass Marie existierte und sogar die treibende Kraft hinter den Untersuchungen der Strahlungsphänomene gewesen war, für die man nur die Männer ehren wollte. Aber den Nobelpreis für Chemie im Jahre 1911 hat sie ganz allein erhalten. Ohne Mme. Curie wäre ich vielleicht nie Ärztin geworden.«
    »Ich glaube allerdings auch, du hast mit Mme. Curie nicht nur den Vornamen gemein«, sagte David ehrfurchtsvoll.
    »Was willst du damit sagen, David?«
    Ehe sich der geschwächte Soldat noch tiefer in seinen eigenen Worten verstricken konnte, kam ihm Rebekka zu Hilfe.
    »Du hast ihn jetzt lange genug getriezt, Mama. Jetzt möchte ich ihn wieder für mich haben.«
    Einen Moment lang zauderte Marie, doch dann gab sie lächelnd nach. »Na gut, ich muss mich sowieso noch um ein paar andere Patienten kümmern. Deinen Ritter nehme ich mir dann später vor. Aber verschone ihn bitte vorerst mit deinen Heiratsanträgen. Hast du verstanden, Bekka?«
    David war sich nicht sicher, was ihn mehr beunruhigen sollte: eine Unterhaltung mit Mme. Rosenbaum oder der Umstand wehrlos diesem Mädchen ausgeliefert zu sein.
    Wie sich in den nächsten Wochen herausstellen sollte, war die vor Leben nur so übersprudelnde Rebekka eine sehr fürsorgliche Krankenschwester. Sie verbrachte jede freie Minute an Davids Lager. Wenn er etwas brauchte, dann holte sie es ihm. Und wenn er es nicht

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