Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
anderen Verwundeten nicht hörten. »Aber ich kann doch nicht bis zum Kriegsende hier liegen bleiben.«
»Wieso denn nicht?«
»Weil ich mich fühle, als wäre ich gerade aus einem Jungbrunnen gestiegen.«
»Das musst du ja niemandem verraten«, flüsterte Marie verschwörerisch.
»Nein, so können wir das nicht machen, Marie. Wirklich nicht. Ich halte es auch gar nicht länger hier aus, so fit wie ich mich fühle.«
»Erstens bin ich deine Ärztin und ich sage dir, dass du vor nicht einmal sieben Wochen eine im Grunde tödliche Bajonettstichwunde erhalten hast, und zweitens werde ich dich zum Kriegsinvaliden machen, wenn du von mir auch nur noch einmal verlangst, dass ich dich wieder ins Feld hinausschicken soll«
David blickte die energische Ärztin erschrocken an. Sie sah wirklich so aus, als wäre sie im Stande ihre Drohung wahrzumachen. Kalt wie Eis rann die Erinnerung an den Rekruten durch seinen Geist, der sich mit der Axt die Hand abgehackt hatte, nur um nicht länger kämpfen zu müssen. Aber dann fiel ihm ein Kompromissvorschlag ein.
»Das wäre eigentlich gar keine so schlechte Idee.«
Jetzt war es an Marie zu stutzen. »Du meinst, ich soll dir einen Fuß amputieren?«
»Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber vielleicht müsstest du dich gar nicht so verausgaben.«
Marie wusste noch immer nicht, was David meinte, und konterte mit Humor. »Ohrläppchen werden nicht anerkannt. Ich müsste dir schon etwas Größeres abschneiden. Vielleicht…«
»Bitte, Marie! Ich habe zwar schon so einiges mit ansehen müssen, aber der Gedanke an herrenlose Glieder bereitet mir immer noch Unbehagen. Nein, was ich meinte, ist mehr eine schriftliche Invalidität. Könnte meine Verwundung nicht einen inneren Schaden angerichtet haben, der es mir unmöglich macht, weiter für mein Vaterland zu töten?«
Maries Gesicht war eine steinerne Maske. Obwohl sie doch selbst soeben ein nicht ganz korrektes Vorgehen zur Rettung ihres Patienten vorgeschlagen hatte, schien Davids Angebot sie zu schockieren. Etwa zehn Sekunden lang. Dann stahl sich ein verschmitztes Lächeln auf ihre Lippen, das wenig später einem breiten Grinsen wich.
»Wenn es schlecht läuft, werden sie mich dafür als deutsche Spionin erschießen, so wie letzten Oktober diese Nackttänzerin Mata Hari.«
»Das fände ich reichlich übertrieben. Du bist doch stets korrekt gekleidet.«
»Der Tänzerin, die man im Wald von Vincennes exekutiert hat, konnte man ihre Schuld auch nie hieb- und stichfest nachweisen.«
»Still, da kommt jemand«, zischte David mit unerwarteter Heftigkeit und noch ehe sich der Vorhang seines Separees teilte, wurden seine Augen groß vor Staunen.
Marie hatte weder etwas gehört noch begriff sie ganz, was ihren Patienten so erschreckt aussehen ließ. Doch mit einem Mal hörte sie ebenfalls Schritte und bald darauf öffnete sich der Vorhang.
»Balu!« Der Schrei aus Davids Kehle ließ über dreißig – teils stark bandagierte – Köpfe im Saal hochfahren.
Marie blickte argwöhnisch auf den braunhäutigen kleinen Mann mit dem zum Zopf gebundenen schwarzen Haar.
»Ja, Sahib?«, antwortete der Inder. Es war ein Scherz. Eine Sekunde lang spielte er noch den steifen Untergebenen, dann eilte er an Davids Bett und schüttelte seine Hand, als wolle er sie nie wieder loslassen.
Als David sich endlich wieder befreit hatte, umarmte er seinen ehemaligen Leibwächter. In seinen Augen standen Tränen. Jetzt betrat auch Rebekka die Szene und vereinte sich mit ihrer Mutter im Beargwöhnen des Fremden.
»Ich wusste gar nicht, dass du einen Sklaven hast«, sagte das Mädchen schließlich. In ihrer Stimme schwang ein Anflug von Eifersucht.
Balu Dreibein ließ von David ab und musterte nun seinerseits Rebekka mit dem für seinen Beruf typischen Misstrauen.
»Jetzt hört schon auf«, sagte David lachend. Ihm war das gegenseitige Taxieren nicht entgangen. »Das hier« – er deutete auf den Inder – »ist Batuswami Bhavabhuti, ein alter Freund und ehemaliger Bediensteter im Hause meines verstorbenen Vaters. Und dieses hübsche Mädchen dort« – er zeigte auf Rebekka – »ist meine Lebensretterin, Rebekka Rosenbaum. Daneben steht ihre kaum weniger hübsche Mutter, Marie. Seid ihr jetzt alle zufrieden?«
»Ich verheiße dir eine Karriere als großer Herzensbrecher, junger Mann«, sagte Marie, nicht unzufrieden über Davids Kompliment.
»Ich dachte, du wärst ein armer Schlucker«, fügte Rebekka, beinahe enttäuscht, hinzu.
David hielt
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