Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
und sie bestanden darauf, dass auch das junge Paar sich nicht durch Adelstitel oder Alter einschüchtern ließ.
Schmunzelnd erzählte die Herzogin vom Besuch Hirohitos im Mai 1921. Sie seien dem Prinzen damals mit der gleichen Offenheit begegnet wie jetzt dem Brautpaar, was der japanische Thronfolger zunächst überhaupt nicht verstanden hatte, aber schon bald sichtlich genoss. Wohl wissend, welches anstrengende Besuchsprogramm der Kronprinz absolvieren musste, habe John für ihn keinen starren Terminplan ausarbeiten lassen, sondern nur Angelfahrten, Besichtigungen, Konzerte, Bälle und andere Zerstreuungen vorgesehen und dem Prinzen die Wahl überlassen. Sie, die Herzogin, erinnere sich noch ganz genau an jenen 23. Mai, den letzten Abend auf Blair Castle, als man nach schottischem Brauch das Abschiedslied gesungen und das dazugehörige Ritual begangen habe. Hirohito war so ergriffen, dass er gar nicht mehr fortgehen wollte.
Im Stillen freute sich David für den Prinzen mit den traurigen Augen. Wie bewegend musste doch für seinen Freund diese ungeheuchelte Herzlichkeit gewesen sein, wo er sonst immer von steifen, starrgesichtigen Höflingen umgeben war, von denen man nie wusste, ob sie einem nicht im nächsten Moment ein wakizashi in den Rücken stießen. Aus Hitos Briefen wusste er, dass der Prinz durchaus auch eine heitere Seite besaß. Als David gegenüber dem Herzogspaar ein paar diesbezügliche Bemerkungen machte, wurde diesem erst bewusst, welch intimen Kenner des japanischen Kaiserhofes sie an ihrer Tafel hatten. Mit einem Mal war ihr Gast es, zum dem sie aufblickten anstatt andersherum.
Mitten im zweiten Gang bemerkte David hinter sich eine Bewegung. Erst im nächsten Moment, als sich der Kopf eines wispernden Bediensteten an das Ohr des Herzogs schob, wurde ihm bewusst, dass seine Sekundenprophetie ihm den Flüsterer angekündigt hatte. Der Diener war übrigens Ben, der die Newtons auch von ihrem Zimmer zum Festsaal gelotst hatte. David bemerkte, wie sich die Stirn des Herzogs unter der getuschelten Mitteilung unwillig in Falten legte. Der Anflug von Ärger dauerte höchstens eine Sekunde. Dann erhellte sich das Gesicht des Schlossherrn – offenbar infolge eines genialen Geistesblitzes – und er wisperte Ben eine Anweisung ins Ohr. Jetzt grinste sogar der Diener und zog sich umgehend zurück.
»Irgendetwas Unangenehmes?«, fragte David über Rebekkas Suppenteller hinweg.
Der Herzog griente. »Wie man’s nimmt. James und Dorothea Smail sind gerade angekommen.«
David sah den Gastgeber fragend an, was dieser mit seiner knappen Antwort offenbar genau bezweckt hatte. Jetzt konnte er die Brautleute über seinen verschlagenen Plan aufklären.
»Die Smails gehören zu den zahlreichen Stämmen des Murray-Clans, genauso wie die Dinsmores, Morays, Spaldings, Balneaves, Flemings, Pipers und wie sie alle heißen – sie sind alle hier.« Er deutete theatralisch die Tafel hinab. »Fast alle jedenfalls. James und Dorothea Smail waren nicht eingeladen. Er ist das, was man gemeinhin als ›schwarzes Schaf‹ der Familie bezeichnet, und sie ist eine Frau wie ein Bandwurm: lang, dürr und gefräßig. Die beiden passen ausgezeichnet zueinander. Niemand kann sie leiden. Aber das stört sie nicht. Sie haben eine fast hellseherische Fähigkeit, wenn es darum geht, irgendwelche Familienfeiern oder sonstige Festivitäten im Voraus zu wittern. Dann packen sie ihr Zeug zusammen, reisen an und laden sich selbst ein. Meistens kommen sie trotzdem noch etwas zu spät, weswegen sie im Clan spöttisch snail – ›Schnecke‹ –, anstatt Smail genannt werden. Die beiden sind wie der Floh im Pelz eines Hundes – Schmarotzer allererster Güte!«
»Und warum war da vorhin dieses diebische Grinsen auf Ihren Lippen, als Sie Ben fortgeschickt haben?«
Der Herzog wiederholte noch einmal das schadenfrohe Grienen. »Ich habe ihnen das Brautgemach zugewiesen!«
»Wie bitte?«
»Nicht Ihre Zimmer, sondern das blaue Schlafzimmer, also die ursprünglich vorgesehenen Gemächer, wo die Ausdünstung der verstopften Retirade die ganze Etage verpestet. Mit den drei, vier anderen Gästen, die ich in diesem Stockwerk unterbringen musste, empfinde ich echtes Mitgefühl, aber bei dem Gedanken, dass die Smails jetzt direkt neben dem Abflussloch nächtigen müssen, überkommt mich nur Schadenfreude.«
David erinnerte sich noch gut an den Gestank der Latrinen beim Kommiss. Der Herzog musste wirklich keine sehr hohe Meinung von den
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