Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
war sie nicht abgesperrt, aber von innen steckte ein Schlüssel im Schloss.
Unter dem Türsturz hätten bequem vier Personen hintereinander Platz finden können, so dick waren die Mauern. Aus dem Gemach dahinter schlug dem Paar ein muffiger Geruch entgegen. Rasch schob David seine Frau hinein.
Der Raum musste sich in dem Nordturm befinden, von dem aus sie am Abend die Aussicht genossen hatten. Im Vergleich zum benachbarten Salon war er geradezu winzig. Genau das Richtige, dachte David beim eiligen Inspizieren des Verstecks. Die Einrichtung bestand nur aus einem kleinen Himmelbett, einer Korbtruhe und einem Stuhl. Im spärlichen Mondlicht konnte man erkennen, dass Teppiche, Bettvorhänge und Tagesdecken kariert waren – vermutlich Tartan. Durch ein Fenster, das angesichts der mächtigen Außenmauern eher einem Tunnel glich, konnte man in den Park hinuntersehen.
»Ausgezeichnet!«, sagte David zufrieden. »Dieser Raum ist eine Burg in der Burg. Du bleibst hier drinnen und verriegelst hinter mir die Tür. Erst wenn ich zurückkomme, machst du wieder auf Hast du mich verstanden?«
Rebekka klammerte sich krampfhaft an seinem Arm fest. »Und wenn du nicht wiederkommst?«
»Ich meinte, du sollst niemandem aufmachen, den du nicht kennst. Aber keine Sorge: Ich werde zurückkehren. Das verspreche ich dir.«
»Aber wie kannst du das versprechen, wenn dieses Scheusal da unten schon so viele Menschen auf dem Gewissen hat?«, jammerte Rebekka ängstlich.
»Hast du schon vergessen, dass ich ein Jahrhundertkind bin? Meine Zeit ist noch nicht gekommen, Schatz.«
Die Absolutheit in seiner Stimme entsprach nicht unbedingt seiner tiefsten Überzeugung. Das Bajonett von Johannes Nogielsky hatte ihm schon vor Jahren den Glauben an die eigene Unverwundbarkeit genommen. Aber das musste er seiner zitternden Frau ja nicht gerade jetzt gestehen. Er löste sich behutsam aus ihrem Griff und schärfte ihr noch einmal ein keinem Fremden zu öffnen. Dann ließ er sie allein.
Nachdem er sicher war, dass Rebekka die Tür hinter ihm wirklich abgeschlossen hatte, huschte er wieder durch den Salon. Am östlichen Kamin vorbei, hielt er auf den erstbesten Ausgang zu, hinter dem er den Flur vermutete. Mit der Linken öffnete er äußerst behutsam die Tür, während seine Rechte den Griff des katana umklammerte. Da sich seine Sekundenprophetie noch nicht gemeldet hatte, hoffte er ungesehen hinausschlüpfen zu können. Je weiter er von Rebekka entfernt war, desto schwerer würde Negromanus sie finden.
Davids ausgeprägter Ortssinn hatte ihn nicht getäuscht – er betrat den Gang genau auf Höhe der Haupttreppe. Wie viel Zeit mochte seit der Entdeckung des Schemens im Park verstrichen sein? Wo befand sich Negromanus jetzt?
Mit freiem Oberkörper, das Langschwert aufrecht vor sich haltend, trat David an das hölzerne Geländer heran und spähte vorsichtig nach unten. Er konnte bis zum Erdgeschoss blicken. Dort unten brannte sogar ein schwaches Nachtlicht. Aber nichts bewegte sich. Alles war ruhig. Doch was hieß das schon? Hier gab es so viele dunkle Winkel, in denen Negromanus lauern konnte.
Davids Sinne waren bis zum Äußersten angespannt. In seinem Kopf tobte ein Sturm. Was sollte er nur tun? Alle möglichen Schreckensszenarien kamen ihm in den Sinn. Mühsam zwang er seine Gedanken zur Ruhe. Nur wenn er den nächsten Schritt seines Gegners vorhersah, würde er ihm zuvorkommen können.
Erneut rief sich David die Erinnerung an seine bisherigen Erkundungsgänge ins Gedächtnis. Soweit er wusste, befanden sich die meisten Aufgänge des Schlosses auf der Ostseite. Hier gab es demnach die besten Fluchtmöglichkeiten. Je länger Negromanus die Räume von Blair Castle durchsuchte, desto größer wurde für ihn die Gefahr einer Entdeckung. Demnach würde er sich bestimmt von Westen nach Osten vorarbeiten. Und im Westflügel lagen ja auch die Derby-Räume, das Hochzeitsgemach.
Noch einmal blickte David vorsichtig über das Geländer nach unten. Auf der Haupttreppe war es immer noch still. Er wusste aus eigener Erfahrung, diese hölzernen Stufen würden sich selbst von Negromanus nicht ohne ein protestierendes Ächzen oder Knarzen überwinden lassen. Im Westflügel gab es noch einen zweiten Aufgang, die so genannte Gemäldetreppe, die genauso schnell Alarm schlagen würde. Allerdings endete sie bereits im ersten Stock. Der West-Ost-Theorie folgend, würde sich für Negromanus nur ein Weg nach oben als einigermaßen sicher anbieten: der durch den
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