Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
runden Treppenturm, ebenjener, den der Herzog ob seiner Enge immer so geflissentlich mied.
Unsicher blickte David zum Glenlyon-Vestibül hin, hinter dem sich der fragliche Turm befand. Seine Hypothese hatte zwei empfindliche Schwachpunkte: Erstens würde Negromanus ihr nur folgen, wenn er den Grundriss des Schlosses genauestens kannte, und zweitens gab es noch eine vierte Treppe. Ben hatte sie ihnen gezeigt, als sie auf den Nordturm gestiegen waren. Sie verlief unmittelbar östlich des Hauptaufganges. Das bedeutete – der Gedanke ließ David erschauern –, sie endete nur drei oder vier Schritte vor der Tür hinter ihm. Durch diesen Eingang gelangte man in den Salon und von dort im Handumdrehen zu Rebekkas Versteck.
Noch nie war David eine Entscheidung so schwer gefallen. Schließlich rang er sich doch dazu durch, seinem Instinkt zu vertrauen. Auf Zehenspitzen schlich er sich den Gang hinauf, huschte durch das schmale Vestibül und stand wenig später vor der Tür zum runden Treppenturm. Er legte sein Ohr an das Holz. Auch hier war alles still. Befand sich Negromanus vielleicht noch im Erdgeschoss? Oder hatte David doch die falsche Entscheidung getroffen?
Er versuchte seinen rebellierenden Verstand mit den Vorzügen dieses strategisch wichtigen Punktes zu beruhigen. Schließlich befand sich gleich gegenüber der Turmtür der andere Eingang zum großen Salon, den er zuvor mit Rebekka durchquert hatte.
Und jetzt? Sollte er hier einfach auf den Schemen warten? Der schmale finstere Flur bot die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für einen Schwertkampf. Mit Grauen erinnerte sich David der von Negromanus niedergestreckten Opfer. Welche Waffe dieser Schemen auch benutzte, sie war ohne jeden Zweifel tödlicher als das schärfste Schwert – jedenfalls wenn sie zum Einsatz kam.
Er musste das Überraschungsmoment nutzen. Nur dann hatte er gegen Negromanus eine reelle Chance. Jetzt, wo David eine Atempause hatte und alles überdenken konnte, wurde ihm das immer klarer. Seine Finger schlossen sich fester um den langen Griff des katana. Er musste Negromanus zuvorkommen.
Noch einmal lauschte er an der Tür. Weder sein Ohr noch sein sechster Sinn verrieten ihm eine unmittelbare Gefahr. Mit äußerster Vorsicht öffnete er die Turmtür. Er wagte auch nicht, sie wieder zu schließen, nachdem er erst einmal die Wendeltreppe betreten hatte. In dem Turm war es fast ebenso finster wie im Flur davor. Eine Zeit lang stand er einfach nur da, die Klinge des Langschwertes aufrecht vor sich haltend, und lauschte.
Nicht der geringste Laut war zu hören. Für einen normalen Menschen wäre es selbst auf den Steintreppen so gut wie ausgeschlossen, sich absolut geräuschlos zu bewegen. Aber was hieß das schon bei einem wandelnden Schatten wie Negromanus? Dessen gleitende, fast könnte man sagen, schwebende Fortbewegungsweise war David in diesem Augenblick nur allzu bewusst. Deshalb verließ er sich völlig auf seine Sekundenprophetie. Wenn Negromanus aus der Deckung der Finsternis heraus einen Angriff gegen ihn führte, dann würde er es voraussehen. Die Frage war nur, wie viel Zeit ihm dann für eine Reaktion blieb.
Früher, im Schwertkampfunterricht, hatte er gelernt, die Füße parallel zueinander dicht über den Boden rutschen zu lassen, um jederzeit festen Stand zu haben, aber nun bewegte er sich so gut wie lautlos über die Stiegen hinab. David war selbst zu einem tödlichen Schatten geworden.
Ganz langsam gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis, die selbst hier nicht absolut war. Durch schmale Fensterschlitze drang wenigstens etwas Licht von der Nachtbeleuchtung beim Haupteingang herein. Davids Ohren meldeten nur das Rauschen des eigenen Blutes. Behutsam wie eine Raubkatze stieg er Stufe um Stufe weiter hinab. Sein Herz raste. Ohne Rebekka hätte er vielleicht einfach die Flucht ergriffen, aber nun war sie ein Teil von ihm geworden. Sie zu beschützen war für ihn nur mehr als ein Akt der Selbstverteidigung. Also musste er sich dem bedrohlichen Gegner stellen – jetzt und hier.
Als David die Tür zum Flur des nächsten Stockwerkes erreicht hatte, hielt er inne. Sollte er sich bis ganz nach unten schleichen? Dann wäre der Weg nach oben für Negromanus frei. Vielleicht wartete der Schatten ja nur darauf. Möglicherweise wollte er erst jenen Menschen umbringen, dessen Tod David mehr als der eigene treffen würde: Rebekka.
David schloss die Augen und sandte ein stilles Stoßgebet gen Himmel. In diesem Moment meldete sich
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