Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Komplott gibt, dann haben dein Sohn und ich wohl ein Recht zu erfahren, wer unseren Tod wünscht und vor allem warum.«
Jetzt war Geoffrey in einer Zwickmühle. Innerlich bedauerte er, Maggys Straßenräuberversion nicht unterstützt zu haben. Leise antwortete er: »Ich glaube, dass Mitsuru Toyama bei der Sache seine Finger im Spiel hat.«
Maggy ließ müde die Arme sinken, die sie eben zur Unterstützung ihres Protestes in die Luft geworfen hatte. »Toyama, Toyama, immer wieder dieser Toyama! Erst soll er Hirobumi Ito ermordet und es nun auch noch auf uns abgesehen haben? Geoffrey, ich verstehe dich nicht. Ich glaube dir ja, dass dieser Kopf des Schwarzen Drachens ein Schurke ist, aber warum sollte er uns umbringen wollen? Was haben wir ihm getan?«
Wieder wanderte Geoffreys Blick zwischen Ehefrau und Sohn hin und her. Als er endlich antwortete, kratzte seine Stimme wie ein am Baum vertrocknetes Blatt im Wind. »Nicht ihr, Liebling. Die Schuld trage ich ganz allein. Ich habe ihren Zorn auf mich geladen und nun müsst ihr darunter leiden. Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, dann befürchte ich das Schlimmste für uns.«
Zu den Sicherheitsvorkehrungen gehörte unter anderem eine ständige Polizeiwache. Zwei Beamte patrouillierten vor dem Anwesen der Camdens und zwei dahinter. In Tokyo gab es zu dieser Zeit nur wenige Steinhäuser. New Camden House war eines davon. In dem Gebäude konnte man sich daher einigermaßen sicher fühlen. Aber sobald ein Mitglied der Familie vor die Tür trat, waren die Fertigkeiten der von Geoffrey engagierten Leibwächter gefragt.
David störte es gewaltig, nicht mehr mit Sam allein zur Schule fahren zu dürfen. Der Kutscher war ja ohnehin noch krank und der Ersatz grinste ihn ständig nur an, ohne ein Wort zu sagen. Der Aushilfskutscher war ein Einheimischer, den die Botschaft besorgt hatte. Weil ihn die Bändigung der Pferde angeblich voll in Anspruch nahm, hatte Geoffrey seinem Sohn zudem einen persönlichen Leibwächter verordnet. Dieser stammte aus der alten Kaiserstadt Nara. Er war kein stolzer Samurai mit Kurz- und Langschwert, Helm und Speer, sondern ein uniformierter Beamter mit einer lächerlich kleinen Pistole. Wenigstens konnte er ju jutsu. Behauptete er. David durfte ja sein katana nicht zur Schule mitnehmen, um sich selbst zu schützen. Er war darüber sehr ungehalten. Kaiser Meiji hatte sich dieses Schwerterverbot für seine Samurais ausgedacht, wohl aus Rücksicht auf die zart besaiteten Fremden. Für die galt der Erlass natürlich ebenso.
Geoffrey setzte nun alle Hebel in Bewegung, um sein Versetzungsgesuch auf Touren zu bringen. In der englischen Gesandtschaft konnte man sich für seine Theorie von einer großen Verschwörung gegen die Camdens nicht recht erwärmen. Dennoch versprach der Botschafter tatkräftige Unterstützung.
Um in seinem Anliegen nichts unversucht zu lassen, benutzte Geoffrey sogar informelle Kanäle wie William H. Rifkind, einen einflussreichen Rechtsanwalt und Notar, der in London das Vermögen der Camdens verwaltete. Sir William hatte für Geoffrey schon so manche Tür geöffnet, wenn die offiziellen »Schlüssel« nicht passen wollten. Mit seiner natürlichen Freundlichkeit, Menschenkenntnis und unaufdringlichen Autorität schaffte es der angesehene Anwalt sogar, die verstocktesten Menschen für sich einzunehmen. Selbst Davids wunderlicher Großonkel Francis, von dem noch die Rede sein wird, hatte in William H. Rifkinds Gegenwart lichte Momente.
Wieder gingen Wochen ins Land. Die japanischen Kirschbäume zogen wie jedes Jahr ihr rosafarbenes Laken über das Land. Und entfernten es wieder. Als sich Anfang Juni in den kaiserlichen Gärten bereits die ersten Schwertlilien für ihren großen Auftritt bereitmachten, flatterte den Camdens ein Telegramm ins Haus. Nun, genau genommen traf die Nachricht in Gesellschaft anderer Depeschen im Zentralen Telegrafenamt von Tokyo ein und wurde über die Botschaft zugestellt, aber das nur nebenbei. Geoffrey las den Text gleich dreimal. Zuerst leise, dann unter Zuhilfenahme seiner Lippen, aber ohne Ton und am Schluss für alle laut und deutlich. Zuletzt gelang ihm ein schwaches Lächeln, das erste seit Monaten.
Dem Versetzungsgesuch war stattgegeben worden. Die Camdens durften umziehen. Gewissermaßen stehenden Fußes. Eine Schiffspassage von Yokohama nach Konstantinopel war bereits gebucht. Von dort aus sollte es mit dem Orientexpress bis nach Wien weitergehen. Die Abreise war für den nächsten
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