Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
führerlos durch die Nacht.
Während Sam noch herniedersank, führte David seinerseits schon einen Streich gegen den Gegner. Aber der reagierte unglaublich schnell und fing den Hieb ab. Nein, dies war kein Anfänger im Ninjakostüm. Dieser Angreifer hatte seine Waffe mit Bedacht gewählt. Ein Schwert war leiser als eine Pistole und in den Händen eines geübten Kriegers wesentlich effektiver.
David bemerkte, wie beim Aufeinandertreffen der Schwerter die Augen des Ninja schon wieder nach dem Vater suchten. Und ihn fanden. Vielleicht sah er es nicht wirklich, weil er sich ja auf sein eigenes Schwert konzentrierte, aber er wusste, dass es so war, ebenso wie er den entscheidenden Angriff des Meuchlers bereits bis ins Einzelne kannte.
Alles stand seltsam klar vor Davids Augen. Wenn er den Lauf der Dinge nicht änderte, dann würde sein Vater mit einer Klinge im Hals sterben. Schon im nächsten Moment käme die Attacke: Mit einer Finte würde der Ninja Davids katana in die dunkle Leere der Nacht ablenken und einen erneuten Hieb mit dem eigenen Langschwert abblocken, um dann sein wakizashi zu ziehen. Dieses kurze Samuraischwert würde er geradewegs auf den Vater niederfahren lassen und…
»Neiiin!« Davids Schrei kam laut und lang gezogen. Er glich den Kampfrufen, mit denen die Fechter ihre Angriffe einleiteten. Für gewöhnlich ließ sich ein geübter Kämpfer davon nicht beeindrucken. Gleichwohl zeigte sich der Ninja überrascht. Der hagere Knabe, der ihm da so unerbittlich trotzte, hatte die tödliche Attacke nicht nur vorausgesehen, er reagierte auch bereits, noch ehe es etwas zu reagieren gab.
Dennoch tat der Ninja, was ihm sein im Geiste zurechtgelegter Plan vorschrieb. Wohl erkannten seine Augen in der beängstigend schnellen Reaktion des Gegners ein ernsthaftes Problem, aber sein Körper führte die vom Gehirn angeordneten Bewegungen trotzdem stur zu Ende. Zum Ziehen des Kurzschwertes nahm der Vermummte eine Hand vom langen Griff des katana. Das würde seinem schräg nach unten geführten Hieb zwar die Kraft rauben, doch als Täuschungsmanöver genügte es. Hätte genügen sollen. Denn während seine Linke nach dem wakizashi griff und er blitzschnell den rechten Arm zur Finte hob, spürte er dort einen dumpfen Schlag am Ellenbogen. Fassungslos blickte er seinem herabfallenden Schwertarm nach.
Es war schon ein bisschen Glück im Spiel, als David genau das Mittelgelenk des gegnerischen Katana- Arms traf. Oder hatte hier jene himmlische Kraft eingegriffen, die einst den Stein eines anderen David gegen die Stirn des Riesen Goliath lenkte? Jedenfalls hob der Junge das rechte Bein und trat mit aller Kraft gegen den verbliebenen Arm, der schon das Kurzschwert hielt. Die Klinge schwirrte aus dem Lichtkreis, Noch ehe der verwundete Ninja wusste, wie ihm geschah, stieß ihn David aus der Kutsche.
Vertrieben
Sams Wunde war genäht worden. Bandagiert lag der alte Mann in seinem Bett. Der Bursche sei zäh wie ein alter Stiefel und würde es überleben, lautete das ärztliche Bulletin. Der Schwertstreich hatte weniger Schaden angerichtet als zunächst vermutet. Dennoch war der nicht mehr ganz junge Kutscher ob des starken Blutverlustes sehr geschwächt. Es würde Wochen dauern, bis er wieder leidlich hergestellt sei.
Streiten konnte der alte Pferdelenker aber auch mit Verband noch ganz gut. Wenn der Earl ihn weiterhin behalten wolle, dann möge er es sich reiflich überlegen, ob er nicht endlich ein Automobil anschaffen wolle, eines jener Dinger, die man hier in letzter Zeit immer häufiger zu Gesicht bekam, lamentierte Sam. Diese pferdelosen Kutschen stänken zwar zum Himmel, böten bei der Abwehr von Wegelagerern aber erheblich besseren Schutz.
Geoffrey war vom Nutzen dieses Vorschlags nicht ganz überzeugt. Mit Rücksicht auf den Zustand des Kutschers lehnte er aber nicht gleich rigoros ab. Vorsichtig merkte er an, in einem einschlägigen Magazin gelesen zu haben, ein Automobilist müsse sein Gefährt mit »Kaltblütigkeit, rascher Auffassung und blitzartigen Entscheidungen« steuern. Das höre sich für ihn doch sehr nach den Eigenschaften eines jungen Samurai an und weniger nach denen seines alten Kutschers. Ob er, Sam, denn wirklich glaube für eine derart anspruchsvolle Fortbewegungsweise das körperliche und nervliche Rüstzeug mitzubringen.
Sam hatte darauf nur schmerzverzerrt gelacht. Die Seiten, auf denen der Earl das gelesen habe, seien wohl schon ziemlich vergilbt gewesen. In den letzten
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