Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
gemeinhin »Straße« nennt. »Sandpisten« oder besser noch »Schleichwege« waren sicher treffendere Umschreibungen für die Abkürzungen, die Sam seinen Rossen und deren Eigentümern zumutete. Straßennamen, eine andere Errungenschaft der westlichen Städteplaner, gab es hier ohnehin nicht. Wie in der freien Natur orientierte man sich an »Landmarken«, also Postämtern, Schreinen oder anderen eindrucksvollen Gebäuden, auch besonders auffällige Straßenführungen, Brücken oder Ähnliches konnten bei der Navigation im Häusermeer von Nutzen sein.
Als die Kutsche gerade in der Lichtblase der eigenen Laternen durch eine düstere Schneise polterte, die sich in unverständlichen Windungen durch eine Ansammlung von Holzhäusern schlängelte, geschah etwas Überraschendes: Jemand versuchte die Camdens zu töten.
Hätte David nicht unvermittelt aufgeschrien, wäre den Meuchlern ihr Unterfangen wohl gelungen. Eben noch hatte er geschlafen, sein Kopf an Maggys Schulter geschaukelt, als er plötzlich hochschreckte und rief: »Pass auf, Sam! Da greift uns jemand an. Aus dem dunklen Winkel links von dir.«
Der Kutscher reagierte nicht sofort. Er war völlig verblüfft, glaubte an einen Alptraum des jungen Viscount.
»Bieg da nach rechts ab!« Es war Maggy, die nach ihrem Sohn als Erste die Fassung zurückgewann. Sam ließ die Zügel knallen und die Pferde galoppierten in die Seitengasse hinein.
Davids Warnung, gepaart mit Maggys energischem Befehl, brachte in der Dunkelheit außerhalb der Lichtblase einige Pläne durcheinander. Wütende Rufe schollen durch die Nacht, entfernten sich mehr und mehr. Schon keimte Hoffnung auf, den Wegelagerern noch einmal entwischt zu sein – da kam der zweite Angriff.
»Sam, direkt von oben!«, warnte David erneut. Und noch bevor der Angreifer selbst wusste, dass dieser Hinweis ihm gelten mochte, schoss David ein Gedanke durch den Kopf. Das katana! Es lag unter seinem Sitz. Im nächsten Moment hielt er es in den Händen.
»Schatz, was hast du vor?«, rief seine Mutter entsetzt.
Für eine Antwort blieb David keine Zeit. Er sprang auf den gegenüberliegenden Sitz neben den Vater und riss das Schwert nach oben. Keinen Moment zu spät, denn von einem überhängenden Hausdach fiel eine dunkle Gestalt auf den Wagen herab. Geoffrey schrumpfte in seinem Sitz zusammen, die Augen schreckensweit. Er schrie einen merkwürdigen Namen, als kenne er diesen schwarzen Todesengel. David sah eine blitzende Klinge niedersausen und reagierte ohne nachzudenken. Ein grässliches Klirren kündete vom Scheitern des Angriffs. Das Schwert des Gegners war auf das seine getroffen und kreischte nur eine Handbreit über Geoffreys Kopf ins Leere.
Die Wucht des Schlages war enorm gewesen. David keuchte. Seine Hände kribbelten. Ohne die Gabe der Sekundenprophetie hätte sein katana dem Angriff nie zum richtigen Zeitpunkt in der idealen Stellung begegnen können. Den Angreifer überraschte die gezielte Gegenwehr und er zögerte. David beurteilte blitzschnell seine Lage. Der Gegner befand sich im Vorteil. Er stand auf dem Bock der dahinrasenden Kutsche und blickte auf Vater und Sohn herab. Seine schwarze Kleidung hüllte ihn vollständig ein. David konnte im Licht der Laternen nur zwei dunkle Augen blitzen sehen, hart wie zwei schwarze Perlen. Ihn schauderte. Für einen Ninja war dieser Vermummte perfekt gekleidet. Doch selbst wenn der Krieger keinem Geheimbund angehörte, standen Davids Chancen in diesem Kampf auf Leben und Tod nicht zum Besten. Ein Waffengang mit richtigen Schwertern! – das war für ihn völlig neu.
Maggy begann zu kreischen. Geoffrey ließ sich in den Fußraum zwischen den Bänken sinken. Der Ninja drehte seine abgelenkte Klinge um und führte einen erneuten Streich, diesmal direkt gegen Davids Hals. Doch der Junge hatte den Angriff wieder vorausgesehen. Unglücklicherweise entsann sich Sam gerade in diesem Augenblick seiner Pflichten. Der schon über fünfzigjährige Kutscher holte mit seiner Peitsche aus, um damit den neben ihm stehenden Angreifer zu vertreiben.
Davids Ohr explodierte. Wenigstens glaubte er das. Diesmal begegneten sich die Klingen unmittelbar neben seinem Kopf. Die Peitsche Sams landete fast zeitgleich auf dem Gesicht des Vermummten. »Pass auf!«, schrie David, der voraussah, was nun geschehen würde: Der Ninja drehte abermals sein Schwert und sandte es gegen den Kutscher. Ein Schrei. Blut. Sam kippte mit einer klaffenden Wunde in der Brust nach vorn. Der Wagen raste jetzt
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