Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
zehn Jahren habe sich da viel geändert. Ein Automobilführer brauche nicht mehr Wagemut als ein klassischer Pferdekutscher. Und wenn noch ein Quäntchen technischer Sachverstand hinzukomme, dann sei er praktisch perfekt.
Geoffrey gab dann schließlich nach. Sam sollte im Wortstreit nicht mehr Kraft einbüßen als im Kampf gegen die Räuber. Außerdem brauchte der Earl selbst Hilfe. Die Klinge des Meuchlers hatte ihn nicht einmal geritzt, aber dennoch war er schwer verletzt. Für ihn war der nächtliche Überfall eine Bestätigung lang gehegter Befürchtungen und jetzt, wo er endlich darüber nachdenken konnte, wurde er fast wahnsinnig.
Wenig später – es war schon weit nach Mitternacht – äußerte er seine Gedanken von einem gezielten Anschlag auf die Familie. Maggy konnte oder wollte seinen konfusen Schilderungen nicht folgen.
»Vielleicht waren es ja nur ganz gewöhnliche Straßenräuber.«
»Das glaubst du doch selbst nicht, Maggy. Der Kerl hatte es auf mich abgesehen. Er wollte mich umbringen und er wird es wieder versuchen.«
»Mit einer Hand?« Der Einwand kam von David, der seinem verängstigten und erregten Vater sowie seiner verwirrten und nicht weniger aufgeregten Mutter beim Familienrat im Wohnzimmer lange nur schweigend zugehört hatte. Beide sahen ihn nun verdutzt an.
»Ich rede ja nicht von diesem schwarzen Krieger«, sagte Geoffrey nach einer Weile. »Du hast ihm das Kämpfen wohl gründlich abgewöhnt, mein Sohn. Ich bin stolz auf dich.« Sich an Maggy wendend, fügte er hinzu: »Es war also doch nicht so verkehrt, ihn in den Budo-Künsten ausbilden zu lassen. Ohne Davids unglaubliches Geschick wären wir wohl jetzt schon alle tot.«
Sosehr sich David auch dagegen sträubte, er konnte sich eines gewissen Stolzes nicht erwehren. Das Lob seines Vaters tat ihm gut, zumal die Ereignisse inzwischen bis zu seinen höheren Bewusstseinssphären aufgestiegen waren und dort für einiges Durcheinander sorgten. Während des Kampfes hatte er sich so konzentrieren müssen, dass die ganze Schrecklichkeit des Geschehens an seinem Verstand vorbei direkt in sein Unterbewusstsein gerutscht war. Erst viel später kam dann der Schock.
Die Minuten nach dem Abgang des Meuchlers waren für David ein einziger Alptraum gewesen. Die Mutter hatte sich um den blutenden Sam gekümmert, der Vater hatte versucht, die durchgegangenen Pferde zu bändigen, und er, David, hatte mit seinem blutigen Schwert am Boden gehockt und auf den abgetrennten Unterarm gestarrt, der noch immer samt katana im Wagen lag. Der grausige Anblick würde ihn sein Leben lang verfolgen.
Meister Yoneda wäre bestimmt hellauf begeistert, wenn er wüsste, was sein Schüler da vollbracht hatte. Der Kampfbericht würde wie Sake durch seine Eingeweide rinnen. Er würde ihn wärmen, ihn nach der zweiten oder dritten Wiederholung zum Lachen reizen und nach dem fünften oder sechsten Schluck trunken machen. Warum nur konnte sich David nicht über seinen Sieg freuen?
Ein Mensch war durch ihn verstümmelt worden, möglicherweise sogar getötet. (Die Polizei hatte das Ninjaschwert nebst Arm inzwischen beschlagnahmt.) Sicher, es war Notwehr gewesen, aber das tröstete David nur wenig. Allmählich begann er zu begreifen, warum seine Mutter den Kriegskünsten gegenüber so ablehnend eingestellt war.
Ebendie riss ihn nun aus den Gedanken. An ihren Mann gewandt fragte sie: »Was war das für ein Wort, das du beim Auftauchen des Banditen gerufen hast?«
»Welches Wort?«, fragte Geoffrey ausweichend.
»Ich weiß nicht. Nadelmann oder Nagelmensch – ich hab’s nicht richtig verstanden.«
David bemerkte, dass sein Vater ihm einen schnellen Blick zuwarf, die Augen aber sogleich wieder auf seine Frau richtete. »Ein alter Alptraum, der mit einem Mal Gestalt angenommen hat. Zu haben schien«, verbesserte sich Geoffrey.
»Also hat es wieder mit deiner geheimnisvollen Vergangenheit zu tun.«
»Maggy! Bitte, belassen wir es dabei.«
David spürte, wie der Zorn in seiner Mutter hochkochte – ein ausgesprochen seltenes Ereignis. Im nächsten Moment explodierte sie. »Verlangst du da nicht ein wenig zu viel, Geoffrey?«, fuhr sie ihren Mann heftig an. »Seit Davids Geburt hast du eine unerklärliche Angst vor Attentaten. Ich habe gesagt, der Überfall heute Nacht war nur eine Tat von Straßendieben, aber du bestehst darauf, dass uns jemand ganz bewusst aufgelauert hat, um uns die Kehlen durchzuschneiden. Bitte schön, dann glaube ich dir. Aber wenn es so ein
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