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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Problemen.
    Wann immer möglich, hielt sich David von dem häuslichen Durcheinander fern. Er hatte mit seinem ganz persönlichen Abschiedsschmerz genug zu tun.
    Die eigentliche Reise nach Europa wurde für ihn dann bald zu einem Geduldsspiel. In der Bibliothek des luxuriösen Dampfers stand ein Globus und jeden Morgen verglich David die Positionen aus dem Bulletin der Brücke mit den Längen- und Breitengraden auf der drehbaren Erdkugel. Einer Schnecke zuzusehen hätte ihm mehr Befriedigung verschafft.
    Der fast zweimonatigen Seereise fielen Davids Sommerferien zum Opfer. Als Entschädigung nahm sein Vater sich viel Zeit für ihn, Geoffrey spielte mit seinem Sohn Mühle und, wenn dieser darauf bestand, sogar Mah-Jongg. Manchmal machten sie Spaziergänge auf dem weitläufigen Promenadendeck. Die Queen Victoria konnte sich zwar nicht mit der monströsen Titanic messen, aber dafür hielt sie sich von Eisbergen fern, was David sehr zu schätzen wusste. Mit nicht allzu großer Hast – gerade so wie ihre Namensgeberin auf ihre alten Tage – tuckerte sie stetig nach Westen.
    In der ersten Woche auf See konnte David abends schlecht einschlafen und erwachte dafür schon bei Sonnenaufgang. Dann schlich er sich aufs Sonnendeck hinaus und vollzog mit seinen beiden Schwertern Schattenkämpfe. Daraus wurde bald eine Gewohnheit, die er lange beibehalten sollte. Die Morgenluft erfrischte ihn und die Bewegung tat seinem Körper gut. Selbst wenn ihn hin und wieder Babur, der indische Steward, entdeckte und aus respektvollem Abstand die Entfernung der »Messer« verlangte, ließ David sich davon nicht die gute Laune verderben.
    Wenn Vater und Mutter zu beschäftigt waren, vertrieb er sich tagsüber die Zeit vor allem mit Lesen. Im Südchinesischen Meer verschlang er Jules Vernes’ Reise um die Erde in 80 Tagen. Wie passend!, lautete dazu Mutters Kommentar. Danach versuchte er es mit John Miltons Menschheitsepos Das verlorene Paradies, welches in sämtlichen zwölf Bänden die Schiffsbibliothek zierte, kapitulierte aber bald schon erschöpft, wenn auch ergriffen, vor der schieren Masse des allegorischen Mammutwerkes. Als Queen Victorias stählerne Namensbase ihren untersetzten Leib durch die Malakkastraße schob, brütete er über Ausgrabungsberichten der im letzten Dezember entdeckten Büste der Nofretete. Früher hatte er hemmungslos seiner Vorliebe für Zukunftsromane gefrönt – neben Jules Vernes’ Werken verschlang er, wie tausende andere junge Leser auch, die Bücher von HL G. Wells, Albert Robida oder anderen Visionären seiner Zeit –, doch nun, im Indischen Ozean, konzentrierte sich Davids geistiger Hunger ganz auf die reale Welt.
    Anders als in der Schule konnte er jetzt endlich Studieren, was er wollte. Das Herauspicken der Rosinen aus dem Kuchen des Wissens bereitete ihm ein fast diebisches Vergnügen. Im Grunde hatte David eine schnelle Auffassungsgabe und einen hellen Verstand, nur die steifen Unterrichtsmethoden an der Ausländerschule von Tokyo hatten ihm das Lernen vergällt. Jetzt fand er geistige Vorbilder, die ihn in seiner Haltung bestätigten, diesen Albert Einstein etwa, einen ehemaligen Patentbeamten aus Bern, aber geboren in Ulm. Der hatte sich auch nicht mit der dumpfen Reglementierung und dem phantasielosen Geist seiner Schule abfinden können und war von seinen Lehrern deshalb lange Zeit als hoffnungsloser Fall abgestempelt worden. Und dann – just in dem Jahr, als Davids erster Erinnerungsknoten geknüpft worden war – erkühnte sich Einstein mit einem Mal, das Universum neu zu bauen. Hierin sei alles relativ, nur das Licht gäbe als kosmische Konstante dem unendlichen Gefüge einen Halt – mit diesen Erklärungen hatte der Deutsche den Jungen im Indischen Ozean schwer beeindruckt.
    In Kairo wurde Zwischenstation eingelegt. Zum ersten Mal in seinem Leben bekam David eine nicht japanische Stadt zu sehen. Gierig saugte er die Eindrücke in sich auf – die Minarette, die Pyramiden von Gizeh, den Bazar, die orientalischen Gerüche, den Lärm – und verließ dreißig Stunden später völlig benommen die Stadt.
    Japans fluchtartiger Rückzug aus dem Mittelalter und die Eröffnung des Suezkanals belegten auf dem Messstab der Geschichte zwei hintereinander liegende Kerben. Nach den Wochen in der Unendlichkeit des Indischen Ozeans fühlte sich David von der künstlichen Wasserstraße zwischen dem Roten und dem Mittelmeer geradezu eingeengt. Er atmete auf, als die Queen Victoria wieder auf die offene See

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