Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
neunmalklug. »Wenn der Tenno anlässlich seiner Inthronisierung vor die Götter tritt, dann trägt er ein weißes Gewand.«
»Hört, hört! Ein Gelehrter der Japanologie«, frotzelte Henry. »Und dein martialisches Reisegepäck dient wohl dazu, den Unbelehrbaren die Ohren abzuschneiden, was?«
»Das kommt ganz darauf an.«
Henry suchte in den blauen Augen des Knaben nach dem Schalk, der dem Ebengesagten die Spitze nahm, fand aber nur selbstbewussten Ernst. Besorgt drehte er sich zu Geoffrey und brummte: »Du solltest deinen Sohn vielleicht in den nächsten Tagen einmal zur Seite nehmen und ihm erklären, in was für einem Land ihr euch jetzt befindet. Ist nur ein gut gemeinter Rat von mir. Wir wollen hier doch kein Blutbad anrichten.«
»Ist in Ordnung, werde ich machen«, antwortete Geoffrey. Die Leichtigkeit seines gespielten Ernstes verlor sich jedoch schnell, als er hinzufügte: »Hat sich in den letzten Wochen irgendwer nach mir erkundigt, abgesehen von den Regierungs- und Botschaftsstellen, meine ich?«
Der Tag, an dem die Welt verrückt wurde
Die Stadt zu Füßen des »Steff’l« war in Davids Augen wie ein Modell der Alpen: überall Stein. (Für die Nichtwiener sei an dieser Stelle angemerkt, dass der Steffi in amtlichen Dokumenten unter dem Namen »Stephansdom« geführt wird.) Die reichhaltige Verwendung des feuerfesten Baumaterials stellte ganz neue Anforderungen an Davids Begriffsvermögen. Bis Mitte 1913 hatte er sich eine Stadt, die vorwiegend aus steinernen Häusern bestand, nicht vorstellen können. Natürlich wusste er aus Büchern, wie es in London, Sankt Petersburg, Berlin oder Wien aussah, genauso wie er die Topografie des Mondes kannte. Aber in so einer Stadt spazieren zu gehen, das hatte schon was! Wenn Tokyo »blühte«, dann waren damit die großen Feuer gemeint, die regelmäßig ganze Stadtteile in Schutt und Asche legten. Im steinernen Wien blühten völlig andere Dinge: die Margeriten, die Musik und die Macht.
Ein anderes Phänomen, das David gleich zu Beginn auffiel, waren die vielen Automobile. Man konnte eine Stunde lang an der Straße stehen und zwei oder sogar drei von ihnen vorüberflitzen sehen. In der Kärntner Straße oder an anderen prominenteren Orten der Stadt machten diese Kutschen, die ihre Pferde unter einer Blechhaube mit sich führten, den eher biologischen Antriebsformen sogar schon ernsthafte Konkurrenz. Wenn es allerdings ans Repräsentieren ging, dann war die hafergetriebene Equipage immer noch ein absolutes Muss.
Wiewohl der Earl of Camden einen hohen aristokratischen Rang bekleidete, der in Österreich dem eines Grafen entsprach, stand bei der Ankunft des Orientexpresses nicht sogleich ein Palais zur standesgerechten Unterbringung der englischen Familie bereit. Dabei waren Wiens Ringstraßen voll gestopft mit Prachtbauten wie ein Krämerladen mit Hutschachteln und Wurzelbürsten, aber momentan gedachte keiner der Besitzer sein einmal erobertes Terrain aufzugeben. Also mussten die Camdens am Opernring in einer jener prächtigen Wohnetagen einziehen, die sich unter Steffis Augen räkelten wie voll gefressene Angorakatzen.
Kurz vor der Ankunft der Camdens in Wien hatten sich Österreich-Ungarn, Deutschland und Italien zu einer Festigung des einunddreißig Jahre alten Dreierbunds durchgerungen. Es waren Zweifel an der Bündnistreue der Italiener aufgekommen (wie sich noch zeigen sollte, nicht ganz zu Unrecht), die General Pollio aber zerstreuen konnte. Temperamentvoll forderte er, dass »der Dreierbund im Kriegsfall wie ein einziger Staat handeln müsse«. Seine Bündnispartner hörten es mit Entzücken. Die zunehmende Erstarkung dieser Achse gab dem übrigen Europa Anlass zur Sorge. Großbritannien und Russland suchten in einem Ostseeabkommen Schutz, Frankreich in einer dreijährigen Militärdienstzeit. Regelmäßige Flottenmanöver sollten die unberechenbar gewordenen Nachbarn einschüchtern. Die allseits wachsenden Rüstungsanstrengungen waren nicht mehr zu übersehen. Seit zwei oder drei Jahren schossen überall Vereinigungen aus dem Boden, deren Zweck darin bestand, der Jugend durch Exerzieren und Übernachtungen im Freien eiserne Disziplin und Durchhaltevermögen anzuerziehen. Geoffrey versetzten diese Entwicklungen in zunehmende Unruhe. Er prophezeite immer öfter einen baldigen globalen Krieg und er war nicht der Einzige.
David beurteilte die Lage weniger kritisch. Wohl pflegte er noch sein Misstrauen gegenüber den Drahtziehern der
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