Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Schreckensbleich blickte er in Maggys Gesicht.
Aufgrund einer unglücklichen Verkettung von Zufällen, die an dieser Stelle aufzuzählen zu ermüdend wäre, erfuhr die Familie erst in diesem Augenblick, was ganz Wien schon seit einigen Stunden in Atem hielt. David schob den Stuhl zurück und umrundete den Tisch. Sein Kopf war dicht neben dem seiner Mutter, als sie gemeinsam die erste Seite des illustrierten Blattes lasen. Da stand nur wenig und doch zu viel für alle Bücher der Welt:
»Das bedeutet Krieg«, flüsterte Geoffrey mit glasigen Augen.
»Aber Liebling«, versuchte Maggy ihn zu beruhigen. Obwohl sie, genauso wie David, die andere Qualität im Entsetzen ihres Mannes bemerkte, versuchte sie die Sache herunterzuspielen. »Das hast du schon so oft gesagt und nie ist etwas Schlimmeres passiert. Denke doch nur an die vielen politischen Attentate der letzten Jahre. Sie haben dir nichts als graue Haare eingebracht. Bald wirst du aussehen wie dein Sohn.«
»Begreifst du denn nicht, Maggy? Das alles waren nur Nadelstiche, jeder für sich nur von geringer Bedeutung, aber du darfst den Blick für das Ganze nicht verlieren. Ich sehe bereits die ersten Risse am Fundament unseres Weltgefüges und fürchte, dabei wird es nicht bleiben.«
»Jetzt redest du wie ein alttestamentarischer Prophet, Geoffrey. Woher willst du denn das wissen?«
»Europa ist ein Pulverfass. In Deutschland spricht man mehr oder weniger offen über einen Präventivkrieg gegen Russland, weil der Zar Milliarden in die Rüstung steckt. Serbien will ein Großslawisches Reich gründen und erhebt Anspruch auf Bosnien. Und ausgerechnet dort wird jetzt der österreichisch-ungarische Thronfolger von einem serbischen Separatisten ermordet. Verstehst du immer noch nicht? Für Kaiser Franz Joseph ist das ein willkommener Anlass, die Serben in ihre Schranken zu weisen.«
»Aber ich denke, Erzherzog Franz Ferdinand hat sich für eine Autonomie der slawischen Völker eingesetzt und wollte in Bosnien dafür werben.«
Geoffrey antwortete nicht sofort. Stattdessen sah er nur schmerzvoll in die Augen seiner Frau, begann dann langsam zu nicken und meinte schließlich erstaunlich ruhig: »Eben, Maggy. Erinnere dich an Hirobumi Ito. Er wollte den Koreanern auch größere Freiheiten geben und wurde angeblich dafür von ihnen umgebracht. Erkennst du nicht die Widersprüche? Merkst du noch nicht, dass hier Kräfte am Walten sind, denen überhaupt nicht der Sinn nach Verständigung und Frieden steht?«
Davids Vater sollte Recht behalten. Einige Tage lang gab es noch Bemühungen die brennende Lunte vom europäischen Pulverfass zu reißen. Papst Pius X. – selbst schon dem Tode näher als dem Leben – betete am Apostelaltar des Petersdoms für das Seelenheil der Hingemordeten, bis er ohnmächtig zusammenbrach. Kondolenzschreiben aus aller Welt hagelten über Wien hernieder. Geoffrey überstellte persönlich das seines Landes. In England bereitete man sich hinter der Mauer des Bedauerns jedoch schon auf das Schlimmste vor. Mit der diplomatischen Post aus der Heimat wurden auch beunruhigende Zeitungsartikel herübergeweht.
»Wir können nur sagen, dass wir alle in England uns vereinigen in dem gemeinsamen Gefühl des Kummers für die hinterbliebenen Leidtragenden und in dem Abscheu gegenüber dem feigen Mord, der das Gewissen der Welt erschüttert hat«, schrieb die Londoner Times. Und der Daily Chronicle textete sogar: »Die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers fällt wie ein Donnerschlag auf Europa.«
Die wichtigste Funktion des Weltgewissens, die rechtzeitige Warnung und Bewahrung vor nicht wieder gutzumachenden Torheiten, musste bei der donnerschlagartigen Erschütterung wohl so sehr gelitten haben, dass europaweit die Verstandeslichter ausgingen. Im Juli bombardierten sich Europas Nationen mit kindischen Ultimaten und bald darauf mit zerstörerischen Granaten. Exakt einen Monat nach dem Attentat auf ihr Thronfolgerehepaar erklärte die Donaumonarchie Serbien den Krieg.
Von nun an spielte die Welt verrückt – diese Worte benutzte ein nachdenklicher Zeitgenosse, der sich Jahrzehnte später erfolgreich für den Kanzlerstuhl in Deutschland bewarb. Der kollektive Wahnsinn reichte gleichwohl nicht so weit, dass man nicht sah, worauf man sich da einließ. Noch ehe sich die Kanoniere über die neuen Freund-Feind-Verhältnisse so richtig eins waren, titelte am 1. August die Königsberger Hartung’sche Zeitung bereits:
Der
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