Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
hinausfuhr. Das nächste Ziel war zugleich auch das Ende seiner ersten und bis dahin größten Schiffsreise: Konstantinopel.
Da, wo Kreuzzüge befohlen und beendet wurden, von wo aus Christen und Muslime ihre Reiche beaufsichtigt hatten, da stiegen die Camdens in die Bahn um. Unweit der Hagia Sophia wartete der grün-gold-schwarze Lindwurm, spuckte zwar nicht Feuer, aber zumindest doch Dampf und verleibte sich dutzendweise Menschen ein. Im Vergleich zu der Eisenbahn, die das kurze Stück vom Shimbashi-Bahnhof nach Yokohama geschnauft war, saß David nun in einem mobilen Luxushotel. Für die wohlbetuchte Kundschaft – hauptsächlich der Blut- und Geldadel Europas – bot der Zug edle Hölzer, blitzende Messingbeschläge, kostbare Teppiche, auserlesene Speisen, einen zuvorkommenden Service und einige andere Lebensnotwendigkeiten. Das pausenlose Schütteln und Rattern gab’s gratis dazu.
Für die Entfernung Konstantinopel – Paris brauchte der Orientexpress weniger als drei Tage, bis Wien sogar nur zwei. Lange genug, um beim Zwischenstopp einen übernächtigten, übellaunigen David auszuspucken. Wie sanft war doch das Schaukeln der pummeligen Queen gewesen!
Am Bahnsteig wartete bereits ein Mann namens Henry. Eigentlich hieß er Henry Edmund Baron of Avebury, aber der rothaarige kleine Engländer war ein alter Bekannter von Davids Vater, daher musste Henry genügen. Sie hatten gemeinsam in Oxford studiert. Henry arbeitete in der Botschaft des Vereinigten Königreiches als Handelsattache, bekleidete also exakt jene Position, die Geoffrey bei seiner Berufung nach Tokyo im Jahre 1897 eingenommen hatte. Der Earl of Camden sollte in Wien, wie zuvor schon vierzehn Jahre lang in Tokyo, auf den Posten des Ersten Sekretärs rücken. Da Wien auf der diplomatischen Waagschale schwerer wog als die japanische Hauptstadt, durfte der Earl sich das als Karrieresprung anrechnen. Bei genauerem Hinsehen konnte man in seinem blonden Haar nun schon etliche silberne Fäden ausmachen, eine wichtige Voraussetzung, um in der Ämterhierarchie bald noch höher zu steigen.
Henry ließ es sich nicht nehmen, Maggy persönlich aus dem Waggon zu helfen. Ein solcher Beistand wäre David peinlich gewesen, daher sprang er, in der Faust seine beiden Schwerter, behände auf den Bahnsteig herab. Geoffrey stieg als Letzter aus.
»Jeff, wie ich mich freue dich zu sehen!«
David bemerkte, wie das Gesicht seines Vaters rot anlief und die Adern an den Schläfen dick hervortraten. Für alle Parteien überraschend waren dann seine Begrüßungsworte.
»Bist du von Sinnen mich so zu nennen, Henry?«
Der Gescholtene zuckte zusammen, als hätte ihn ein Tiger angefaucht, was auch ziemlich genau Geoffreys Tonfall entsprach. Um drei Fingerbreit geschrumpft entgegnete er: »Was ist denn in dich gefahren, Geoffrey? Begrüßt man so einen alten Freund und Zimmerkumpan?«
Davids Vater sah sich um, als fürchte er die Ohren einer Schar von Verrätern, und brachte schließlich ein Lächeln heraus. »Entschuldige, Henry, aber als Freund solltest du dich eigentlich noch erinnern, wie sehr mir alle Verstümmelungen meines Namens zuwider sind.«
»Schwamm drüber«, sagte Henry lachend. Er war wohl nicht leicht zu kränken. »Ist mir sogar ganz lieb, wenn deine alten Marotten noch nicht eingetrocknet sind: großzügig und liberal bis ins Mark, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht, aber exzentrisch bis zum Gehtnichtmehr, wenn sich einer an deinem Namen vergreift. Herzlich willkommen, Geoffrey. Recht so?«
»Exzellent! So und nicht anders. Die Titel sparen wir uns für das diplomatische Parkett auf. Und jetzt lass mich dir jemanden vorstellen. Maggy kennst du ja schon…«
»Allerdings nicht so schön.«
»Alter Charmeur! Und dieser junge Mann hier neben mir ist David.«
»Das Maskottchen des Tokyoter diplomatischen Korps«, fügte Henry mit wissendem Nicken hinzu. Er und Geoffrey hatten sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten mehrmals geschrieben. Ein wenig nachdenklich musterte er Davids weißen Schopf.
»Habt ihr schon mal daran gedacht, ihm die Haare zu färben?«
Maggy runzelte bedrohlich die Stirn, aber Geoffrey umfasste schnell ihren Arm und meinte nur schmunzelnd: »Du darfst ihm solche Entgleisungen nicht verübeln, Liebling. So geschickt Henry sich auf dem diplomatischen Parkett bewegt, so ungehobelt ist er manchmal im Privaten. Das macht ihn so liebenswert.«
»Weiße Haare gelten als Zeichen von Weisheit und Reinheit«, konterte David
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