Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Macht, aber gerade das trog seinen Sinn für die Realitäten. Er sah die großen Fürstenhäuser Europas als eine einzige verschworene Sippe. Schließlich waren sie, dank ihrer »Urmutter«, der britischen Königin Victoria, alle irgendwie miteinander verwandt: Kaiser Wilhelm II. der russische Zar Nikolaus II. – die Liste der Enkel, Neffen und Nichten war länger als das Schiffsregister von Lloyd’s.
Sicher, in jeder Familie gab’s mal Krach, aber deshalb brachte man sich doch nicht gleich um.
Die Unbekümmertheit, mit der David die dunklen Wolken am politischen Horizont Europas übersah, hatte auch viel mit seiner neuen Umgebung zu tun. Diese bot einfach zu viele Ablenkungen. Hinzu kam, dass in diesen Tagen Krieg nicht unbedingt mit Grauen gleichzusetzen war. Viele junge Männer sahen darin eher eine Art Vergnügungspark, dem Prater nicht unähnlich, ein Ort also, den man aufsuchte, um sich einmal richtig auszutoben.
Während die Wochen ins Land gingen, Wien erst nasskalt und dann weiß wurde, erlernte David die deutsche Sprache. Dabei eignete er sich nicht nur jenen charakteristischen Tonfall der Wiener an, nein, David bekam auch ein Gefühl für das Hochdeutsche (wo immer dieses Hochdeutschland liegen mochte).
In Österreich gab es fast so viele Titel wie Einwohner. Hier endete Davids Sprachtalent. Die k. u. k. Monarchie hatte ein ausgeklügeltes System entwickelt, um Wert und Wichtigkeit ihrer Bürger in blitzende Namenskartuschen abzufüllen. Es gab Magister und Sekretäre, Leiter und Räte, alle mit phantasiereichen Vor- und Nachsilben verziert, mit kunstvollen Wortziselierungen, die David bei aller Klugheit niemals auch nur andeutungsweise verinnerlichte.
Im Frühjahr 1914 verschlimmerte sich wieder Geoffreys zwiespältiges Verhältnis zu Zeitungen: Er konnte nicht von ihnen lassen, obwohl sie ihn krank machten. Leider wurden die Kriegsgerüchte, auf die er besonders allergisch reagierte, auch nicht gerade seltener. Infolgedessen litt er bald unter Schlaflosigkeit, Alpträumen und Übernervosität. Maggy hatte von einem Spezialisten, einem gewissen Sigmund Freud, gehört, der in der Berggasse 19 praktizierte. Sobald sich jemand dort auf der Couch ausstreckte, würde der Seelenarzt auch schon in der Psyche seines Patienten herumsezieren und dabei so manchen Fremdkörper ans Tageslicht befördern, hieß es. »Vielleicht findet er bei dir auch so einen ›Splitter‹«, versuchte sie Geoffrey einen Besuch bei dem Doktor schmackhaft zu machen. »Und wenn er ihn erst herausgezogen hat, dann wird es dir besser gehen.«
Geoffrey lehnte brüskiert ab. Er sei doch nicht verrückt. Aber weil Maggy ihm weiter in den Ohren lag, willigte er schließlich in einen kurzen Erholungsurlaub ein. Etwas Ruhe und Ablenkung würden ihm sicher besser tun als das untätige Herumliegen auf einer Couch in der Wiener Berggasse, meinte er.
Ende Mai besuchte die Familie Salzburg, das sich gerne als Mozarts Stadt verkaufte. Anscheinend hatte man den großen Komponisten in kleine süße Kugeln gepresst, die hier unter seinem Namen an jeder Ecke feilgeboten wurden. Maggy fand nur langsam Gefallen an diesem Urlaubsziel. Es war so nah. Sie träumte von einem Abstecher in die Heimat, vielleicht ins englische Seebad Scarborough, oder gar nach Nizza. Selbst mit Baden-Baden oder Karlsbad hätte sie sich schon begnügt. In all diesen Orten gaben sich Aristokraten ebenso wie neureiche »Schlotbarone« die Klinke in die Hand. Das repräsentative Kuren war eine gesellschaftliche Pflichtdisziplin. Aber das Salzburger Land…!
Die Camdens besichtigten auch das Weiße Rössl am Wolfgangsee und schlüpften am Dachsteinmassiv in die Rolle einer hochalpinen Seilschaft. Als David an diesem letzten Tag des Monats von weit oben auf die Welt herniederblickte, war er völlig hingerissen. Eine himmlische Stille wärmte ihn von innen, mehr als die Sonne von außen. Nur der Wind säuselte ihm leise ins Ohr: Sieh dir die Natur an, Kleiner, und lerne von ihr. Ihr Menschlein müsst euch nur diesem Frieden Gottes anvertrauen, um für immer im Glück zu leben. Leider hatten die Mächtigen der Donaumonarchie an diesem Sonntag keine Zeit an Davids Seite zu wandern, sonst hätte vielleicht vermieden werden können, was einen Monat später seinen Lauf nahm.
Am Montag, dem 29. Juni, nahm Davids Vater wie jeden Morgen die Kronen-Zeitung zur Hand, um an seinen Deutschkenntnissen zu feilen. Augenblicke später rutschte sie ihm wieder aus der Hand.
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