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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Weltkrieg
     
    Die Bedeutung dieses neuen Wortgebildes musste wohl dem Mann auf der Straße noch fremd gewesen sein. Wie sonst hätte man sich seine merkwürdige Reaktion erklären können? Ein Rausch der Kriegsbegeisterung bemächtigte sich nämlich fast aller europäischen Nationen. Kritische Stimmen gab es zwar auch, aber die gingen in dem Jubelgeschrei unter.
    Während ein Land nach dem anderen mobil machte, ordnete Geoffrey im Wiener Domizil der Camdens den Rückzug an: Es hieß wieder einmal Packen. Der Eintritt Großbritanniens in das epochale Schlachtfest sei nur noch eine Frage der Zeit, unkte er. Die Rückrufung des Botschafters und seines Stabes nach England könne praktisch stündlich erfolgen.
    David wunderte sich schon lange nicht mehr über die präzisen Voraussagen seines Vaters. Schon am Morgen des neunundzwanzigsten traf das Telegramm aus London ein: Abhauen! Nun, es war ein wenig amtlicher formuliert, aber im Grunde lief es darauf hinaus.
    Weniger als vierundzwanzig Stunden später ging es mit dem Zug bis zur französischen Küste und anschließend mit der Fähre über den Ärmelkanal nach Dover. Von dort setzten die Camdens ihre Flucht wieder per Bahn fort. Am Sonntag, dem 2. August erreichten sie ihren Unterschlupf: Camden Hall, den Londoner Stammsitz der Familie.
    In diesen Tagen schossen die Kriegserklärungen wie Irrläufer kreuz und quer über Europa hinweg, bald auch über den ganzen Globus. Jetzt musste sich zeigen, ob die Verträge zwischen den großen Imperien mehr wert waren als das Papier, auf dem sie standen. Nun ist Geduld nicht gerade eine der stärksten mediterranen Tugenden und so wundert es nicht, dass Italien schon sehr schnell und, wie bereits angedeutet, nicht ganz unerwartet aus dem Dreierbund ausbrach. Mit der Türkei fand sich bald ein Ersatzspieler im Team der Mittelmächte.
    Im internationalen Ultimatenwettkampf war Großbritannien schon frühzeitig ein todsicherer Zug gelungen: Man verlangte von Deutschland am vierten des Monats die Finger vom neutralen Belgien zu lassen. Das war insofern genial, weil Kaiser Wilhelm II. seine Truppen bereits am Vortage in Belgien hatte einmarschieren lassen, woraufhin ihm England um Mitternacht die Kriegserklärung zukabelte. Österreich-Ungarn bekam den Fehdehandschuh am 12. August hingeworfen. Hurra! (Eines der in diesen Tagen am häufigsten verwendeten Worte.) Jetzt durfte also auch das Vereinigte Königreich in der Meute Krieg führender Nationen mitlaufen.
    David betrat Camden Hall zum ersten Mal, als sich sein Heimatland gerade den letzten Sonntag im Frieden gönnte. Der Londoner Stadtpalast war mindestens viermal so groß wie das Palais in Tokyo. Im Haus wohnte noch Geoffreys Onkel Francis, ein gebeugter Sechsundsiebzigjähriger, der im letzten Jahrhundert hier vergessen worden war. Im Kopf des einstigen Admirals der Navy tickte es nicht mehr ganz richtig. Unter seinem weißhaarigen Schopf brütete er ständig wilde Seemannsgeschichten aus. Fremden gegenüber stellte er sich als Sir Francis Drake vor, den Freibeuter Ihrer Majestät. Fast immer schlurfte er in Pantoffeln und Morgenrock durch das Anwesen, während er gleichzeitig seine imaginären Erinnerungen vor sich hin murmelte. Zwischendurch terrorisierte er das Dienstpersonal.
    Zum Glück schlief der Seefahrer gerade, als David die ersten zaghaften Schritte im neuen Zuhause wagte. Die letzten Tage steckten ihm noch wie ein Anfall von Ruhr im Leib. Er fühlte sich seltsam benommen. Sein Argwohn gegen die Großen der Welt begann sich allmählich zu einem hässlichen Geschwür auszuwachsen. Als Hauptursache dieses drückenden Gefühls identifizierte er die Unannehmlichkeiten, die er der Mächtigen wegen hinnehmen musste: Sein Vater lebte in ständiger Angst, seine Mutter begann an der göttlichen Gerechtigkeit zu zweifeln und er, David, musste binnen Jahresfrist nun schon zum zweiten Mal umziehen. Vom Krieg kannte der Vierzehnjährige ja nur die Glorienbilder seiner Mitschüler und der Lehrerschaft, aber allein die Vorstellung, sich schon wieder einen Satz von Lehrern zurechtbiegen zu müssen, weckte seinen Groll.
    Unweit von Charing Cross war Camden Hall sehr zentral gelegen. Es gab noblere Wohngegenden als Camden, vorzugsweise jene, von denen aus man hoch zu Ross direkt in den Hyde Park einreiten konnte.
    Dafür pulsierte aber hier das Leben. Wenn man nach Einbruch der Dunkelheit vom Piccadilly Circus aus durch die Shaftsbury Avenue wanderte und ein Stück hinter St. Anne’s in

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