Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
David den etwas unscheinbar wirkenden Juden in Linz traf, blieb ihm das nicht verborgen. Wiesenthals Augen waren angefüllt mit erlebtem Leid, aber aus ihnen strahlte auch eine ungeheure Kraft. Äußerlich betrachtet war er ein netter, sogar gut aussehender Mann von über vierzig, deutlich kleiner als David, mit einem markanten, etwas kantigen Gesicht und einer hohen Stirn. Sein dunkles Haar wies nur wenige graue Strähnen auf, der schmale Schnurrbart überhaupt keine.
An einem sonnigen Apriltag hatten sie sich bei der Dampfschiffstation getroffen und auf Vorschlag Wiesenthals einen Spaziergang entlang der Donau angetreten. Wie üblich bemühte sich David zunächst um das Vertrauen des Gesprächspartners: Er ließ sein Gegenüber erzählen und hörte aufmerksam zu.
Den Krieg hatte Simon Wiesenthal als körperliches Wrack überlebt. Doch bald erholte er sich wieder. Vergessen konnte er die in zwölf Konzentrationslagern erlittenen Torturen jedoch nie. Zunächst half er dem amerikanischen Counter Intelligence Corps bei der Suche nach Kriegsverbrechern, Im Jahre 1947 gründete er dann mit dreißig Gleichgesinnten das Linzer Dokumentationszentrum. Vor kurzem war über die Schließung seines Instituts entschieden worden. Aber der Jude dachte keineswegs ans Aufgeben, Seine zahllosen Dokumente hatte er dem Staat Israel vermacht. In Zukunft würde der Nazijäger allein auf die Pirsch gehen.
Als David von der Suche nach Papen erzählte, zeigte sich Wiesenthal aus ähnlichen Gründen wie vordem Fritz Bauer zunächst uninteressiert. Doch dem Wahrheitsfinder konnte auf Dauer kaum jemand widerstehen. Zuletzt schritten die beiden Männer schweigend nebeneinander her. Zu ihrer Linken floss träge die Donau, rechter Hand zwitscherten die Vögel in Bäumen und Büschen.
»Sie scheinen mir ein sehr entschlossener Mann zu sein, Mr Claymore«, begann Wiesenthal schließlich, »Halten Sie mich bitte nicht für begriffsstutzig, aber warum konzentrieren Sie sich nicht auf lohnendere Ziele? Eichmann zum Beispiel oder…«
»Sie reden von Adolf Eichmann?«
Wiesenthal nickte.
»Für mich einer der größten Naziverbrecher überhaupt.«
»Mir kommt er eher wie ein von Hitlers Wahnvorstellungen infizierter Schreibtischtäter vor, dessen pathologische Gewissenhaftigkeit ihn für die barbarischen Folgen seiner ›Arbeit‹ blind gemacht hat.«
»Nett gesagt, Mr Claymore. Wir liegen allerdings gar nicht so weit auseinander. Mit dem Wort ›Verbrecher‹ habe ich keineswegs einen von der Gesellschaft geächteten Paranoiker gemeint, der schon von weitem aus der Menge heraussticht. Massenmord in großem Maßstab setzt einen sozial angepassten Täter voraus. Eichmann wird von Zeugen als durchaus umgänglicher Mensch beschrieben, als geborener Beamter: gründlich, ordentlich, die Dienstvorschrift immer peinlich beachtend. Insofern dürfte Ihr Bild vom Schreibtischtäter also stimmen. Im Übrigen scheint Eichmann, nach allem, was ich erfahren habe, ein eher farbloses Gewächs zu sein.«
»Mir fällt es schwer, ihn mir so… menschlich vorzustellen. Er hat meine Schwiegermutter, eine jüdische Ärztin aus Paris, in den Tod geschickt.«
»Und noch sechs Millionen andere Frauen, Männer und Kinder.«
»Sie spielen auf Eichmanns Rolle im Referat IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes an. Aber ich rede nicht von seinem Beitrag bei der Deportation der Juden in die Vernichtungslager. Die Zentrale Stelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen im württembergischen Ludwigsburg hat mir auf meine Anfrage hin bestätigt, dass Marie Rosenbaum, die Mutter meiner Frau, auf seine ausdrückliche Anweisung hin ermordet wurde.«
Wiesenthals dunkle Augen begannen zu funkeln. »Haben Sie das Schreiben von damals noch?«
»Natürlich. Allerdings trage ich es nicht bei mir. Ich könnte Ihnen eine Kopie schicken.«
»Oh bitte! Eichmann steht auf meiner ›Abschussliste‹ ganz oben. Ich bin immer an Dokumenten interessiert, die seine direkte Beteiligung am Tode Einzelner belegen. Sie könnten einmal der Schlüssel zu seiner Verurteilung sein.«
»Sie meinen seiner Hinrichtung.«
Ein tiefgründiges Lächeln umspielte Wiesenthals Lippen. »Darüber haben die Gerichte zu entscheiden.«
David suchte nach Spuren von Rachegelüsten im Gesicht des anderen, fand aber nur einen unbeugsamen Willen. »Vielleicht können wir ein Geschäft auf Gegenseitigkeit abschließen, Herr Wiesenthal. Sie versorgen mich mit Informationen über die Ihnen bekannten Nazischlupfwinkel
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