Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
und ich halte meine Augen in Bezug auf Eichmann offen. Als Zeichen meines guten Willens werde ich umgehend die Zusendung des von Ihnen gewünschten Dokumentes veranlassen.«
»Unsere Unterhaltung beginnt mir Spaß zu machen. Wenn Sie wirklich der findige Mann sind, als der Sie mir von Fritz Bauer avisiert wurden, dann könnte so ein Geschäft für beide Seiten lohnenswert sein. Einverstanden – Sie bekommen von mir, was sie brauchen.«
David atmete auf. »Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte, wo sich Eichmann jetzt aufhalten könnte?«
»Wie es der Zufall will, hat er hier in Linz ganz in meiner Nachbarschaft gewohnt. Ich kenne seine Frau, eine Sudetendeutsche namens Veronika Liebl. Sie hat nach dem Untergang des Dritten Reiches die Mär verbreitet, ihr Mann habe den Krieg nicht überlebt. Ich persönlich halte das für eine Finte: Tote werden aus den Registern gestrichen und niemand kümmert sich mehr um sie. Vor zwei Jahren ist Vera Eichmann allerdings ziemlich plötzlich verschwunden. Leutselige Nachbarn haben mir gegenüber ausgeplauscht, Frau Eichmann lebe jetzt mit ihren Söhnen in Brasilien.«
»Südamerika?« David horchte auf. Sofort kam ihm An Chung-gun in den Sinn. Der Koreaner hatte von einem amerikanischen Logenbruder gesprochen. Ich bin ein Narr gewesen, immer nur an die Vereinigten Staaten gedacht zu haben! Er versuchte sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen, als er fast beiläufig sagte: »Man erzählt sich, dort unten gebe es einige Länder, die Nazis durchaus freundlich gegenüberstehen.«
»Das ist noch untertrieben. In verschiedenen Fällen hat die argentinische Regierung sogar die Flugtickets für deutsche Rüstungsexperten bezahlt. Auch den politischen Führern von Kolumbien ist braunes Gedankengut nicht gerade unsympathisch.«
»Könnte es sein, dass die alten Nazis noch immer Kontakt untereinander halten?«
»Sie wollen sagen: Papen und Eichmann?«
»Zum Beispiel.«
Wieder dieses wissende Lächeln. »Nun, Mr Claymore, betreten wir dünnes Eis. Ich werde Ihnen einige Dinge erzählen, die entweder absichtlich von den Nazis lancierte Legenden sind oder, wenn die Informationen stimmen, jeden allzu Neugierigen in Todesgefahr bringen können. Haben Sie schon einmal von einer Organisation namens Odessa gehört?«
Spielernaturen
Hitlers Orden mit dem Totenkopf und der Siegrune glich einer Krake. Wie das Meerestier besaß auch die SS viele Arme und ein zähes Leben. Die Mitglieder der Schutzstaffel hatten ein Faible für Mystisches. Deshalb verehrten sie die germanischen Götter- und Heldenepen genauso wie deren Interpreten Richard Wagner. Dem Namen Odessa haftete ebenfalls ein Hauch des Dunklen, Rätselhaften an. Er stand für eine geheimnisvolle SS-Organisation, deren unsichtbares Netz nicht greifbar, aber doch überall präsent zu sein schien. Phantasiebegabte Zeitgenossen dichteten der »Interessenvertretung« fast unbegrenzte Macht an, gegründet auf sagenhafte Nazischätze. Man sprach von Geheimkammern voller Dollarbündel oder versunkenen U-Booten prall gefüllt mit Goldbarren.
Einen knappen Monat lang bereiste David die Alpenrepublik Österreich, um die Informationen von Simon Wiesenthal zu verifizieren. Nebenbei zerbrach er sich den Kopf über den von An Chung-gun erwähnten zweiten amerikanischen Logenbruder. Damit konnte er kaum Papen gemeint haben, weil dieser erst 1949 aus dem Arbeitslager entlassen worden und danach – offenbar noch in Deutschland – zum Schriftsteller avanciert war. Der Koreaner hatte sich beklagt, seit Gründung der Volksrepublik seien Nachrichten bei ihm nur noch spärlich eingegangen. Vermutlich wusste er nicht einmal von der Existenz Papens. Südamerika blieb dennoch ein lohnendes Studienobjekt für David, denn sollte sich der deutsche Logenbruder dorthin abgesetzt haben, hatte er aller Wahrscheinlichkeit nach die Hilfe seines Kumpans vor Ort in Anspruch genommen. Und wer konnte schon wissen, ob die von Wiesenthal so vage umschriebene SS-Geheim-Organisation nicht wie der Ku-Klux-Klan ein Ableger des Kreises der Dämmerung war? Natürlich ließ sich in den vier Wochen, die David in Österreich umherreiste, die Organisation von Odessa nicht enträtseln, ja, nicht einmal deren Existenz zweifelsfrei nachweisen, aber einige wertvolle Anhaltspunkte brachte er doch ans Tageslicht.
Seine Recherchen begann er unweit des idyllischen Uferpfads, den er mit Wiesenthal entlanggewandert war, genauer gesagt in der Linzer Bischofstraße 3. Hier
Weitere Kostenlose Bücher