Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
ein monumentaler Palast aus Kalkstein. Wie auch bei den Stufentempeln schien sich der Zahn der Zeit am rauen Mauerwerk des riesigen Quaders gütlich getan zu haben, hier wie da sah man braune, gelbe und orangefarbene Flechten auf dem grauweißen Stein. Aber je näher man dem Palast kam, desto deutlicher fielen die Unterschiede zu den Bauwerken auf, die sie bereits passiert hatten. Das wuchtige Gebäude hier war erstaunlich gut erhalten. Ja, man konnte wirklich glauben, ein alter Indiofürst habe den Untergang seines Volkes überlebt und sich an dieser Stelle ein unzerstörbares Refugium geschaffen.
Der Vorplatz des Palastes bestand aus unregelmäßig geformten Steinplatten. Wie tief sich das Gebäude in den Dschungel erstreckte, war nicht auszumachen. Soweit erkennbar, ruhte es auf einem rundum laufenden Stufensockel. Es mochte vierzig Meter breit sein und besaß zwei Stockwerke. Nur das untere verfügte über Tür- und Fensteröffnungen. Das Obergeschoss war mit geometrischen Mosaiken verziert. Über einem Stuckfries, auf dem Gesichter, Flechtwerk und andere Motive der Mayakunst zu sehen waren, befand sich ein flaches, offenbar begehbares Dach.
Genau vor der Mitte des lang gestreckten Baus hielt der Wagen an. Barrios sprang hinaus und deutete einladend auf eine breite zweiflüglige Holztür. Aus der Nähe betrachtet, musste der gute Erhaltungszustand des Tores auch den letzten Zweifler überzeugen: Das hier war kein sich selbst überlassenes Gemäuer. Vor eintausendfünfhundert Jahren mochte es tatsächlich der Palast eines Mayafürsten gewesen sein, aber wer immer nun in diesem geräumigen Versteck hauste, er hatte sich viel Mühe gegeben, es wieder bewohnbar zu machen.
»Darf ich bitten, Herr Schwertfeger: der Palast des Großen Jaguars.« Barrios lächelte. Die staunenden Blicke seines Gastes waren ihm nicht entgangen.
Mit einem dankbaren Nicken griff David nach seiner Reisetasche, stieg aus dem Wagen und schickte sich an, das ungewöhnliche Herrenhaus zu betreten. An der Tür blieb er noch einmal stehen und betrachtete nachdenklich dessen reiches Schnitzwerk. Die Motive ähnelten denen am Stuckfries unter dem Flachdach, aber im Zentrum jedes der beiden Türflügel prangte ein besonderes Symbol: die Rosette des Geheimzirkels.
»Das ist Sapodillaholz«, erklärte Barrios. »Schwer, hart, besonders witterungsbeständig. Es muss mit Steinwerkzeugen bearbeitet werden. Durch diese Tür kommt so schnell niemand hinein.«
David nickte. »Ich weiß. Ein Jahrhundert voller Stürme machen dem Holz gar nichts aus.« Dann betrat er das Gebäude, wohl wissend, dass die sich hinter ihm schließende Sapodillatür auch ein Entkommen nahezu unmöglich machen würde.
Der Palast des Großen Jaguars stand einem Hotel der Spitzenklasse in nichts nach, vor allem was den Service betraf. Kaum hatte David das Innere des im klassischen Mayastil gehaltenen Hauses betreten, umschwirrte ihn schon ein Schwarm von weiß behandschuhten Lakaien. Über den ebenso strahlend weißen Hosen trugen sie lange gleichfarbige Baumwolljackets, verblüfften durch große Schweigsamkeit und lächelten, als sei das der eigentliche Zweck ihres Daseins. Natürlich durchschaute David die Dienstbeflissenheit der ihm persönlich zugeteilten Pagen schnell – sie schienen übrigens alle indianischer Abstammung zu sein. Man wollte ihn nicht aus den Augen lassen. Er sollte nicht etwa auf den vermessenen Gedanken kommen, den Palast des Großen Jaguars auf eigene Faust zu erkunden.
Vorerst begnügte sich David mit der ihm zugedachten Rolle und staunte. Zwar hatte er sich auf Überraschungen gefasst gemacht, aber die Pracht im Inneren des Bauwerkes überstieg dennoch all seine Erwartungen. Nach der Durchquerung der großen, mit Tropenhölzern kostbar verzierten Eingangshalle, wurde er wieder ins Freie geführt. Es ging durch einen Säulengang, der einen paradiesischen Innenhof umsäumte. Im hinteren – für eine Flucht gewiss am schlechtesten geeigneten – Teil des Palastes bekam David dann eine luxuriöse Suite zugewiesen: Salon, Schlaf- und Ankleidezimmer. Daneben noch ein opulentes Badezimmer mit goldenen Wasserhähnen. Sein Gastgeber hatte wirklich Stil. Leider war er, wie immer auch sein Name lautete, bisher noch nicht in Erscheinung getreten. Manuel Barrios hatte sich, das gefälschte Legitimationsschreiben in der Hand, bereits in der Vorhalle entschuldigt. Er wolle den Hausherrn umgehend über die Ankunft des Gastes in Kenntnis setzen. David solle sich
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