Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
ruhig in der Zwischenzeit frisch machen und ein sauberes Hemd anziehen. Offenbar legte der Besitzer dieses prunkvollen Dschungelpalastes großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres.
Fürs Erste war David allein. Die letzten beiden Lakaien waren hinter einer massiven Holztür zurückgeblieben und warteten vermutlich dort, bis sie ihn zum Lunch abführen durften. Interessehalber drückte er nach einigen Sekunden Lauschens die Klinke hinunter. Wie vermutet war die Tür verschlossen. Schnell verschaffte er sich einen Überblick. Auch die Einrichtung der Zimmerflucht prägten Einlegearbeiten aus kostbaren Hölzern. Im Salon lud eine massive Sitzgarnitur in schlichtem Naturton zum Versinken ein. Eine Porzellanvase auf dem Glastisch davor enthielt frische Orchideen. Auf dem Boden lagen dicke Teppiche, in denen die Töne Orange, Grün und Braun dominierten. Im Zentrum des ganz in Hellblau und Gold gehaltenen Schlafzimmers stand ein riesiges Himmelbett und im Ankleideraum hingen seidene Morgenröcke verschiedener Größe. Bei all dem Luxus konnte dem unbedarften Gast schon ein entscheidendes Detail entgehen: Die gesamte Suite war von der Außenwelt hermetisch abgeriegelt.
Alle Räume verfügten über Fenster, die einen faszinierenden Ausblick in den Dschungel gewährten. Aber sie waren verschlossen. Mehr noch: Sie bestanden aus Panzerglas. Nun lud das feuchtheiße Klima draußen nicht gerade zum Aufreißen der Fenster ein, weshalb man sich leicht der Illusion hingeben konnte, besagte Beschränkungen dienten nur dem eigenen Wohlbefinden. Dennoch konnte sich David des Eindrucks nicht erwehren, in eine Falle getappt zu sein. Er fragte sich, ob die holzgetäfelten Wände auch Augen und Ohren hatten. Bei der hautnahen »Bewachung« durch das wortkarge Dienstpersonal draußen musste er diese Möglichkeit durchaus in Betracht ziehen.
Es galt also, sich so natürlich wie möglich zu verhalten.
Zunächst zog er sich aus, ging ins Bad und duschte. Unter dem heißen Wasser johlte er Seemannslieder. Anschließend schlüpfte er in einen passenden Morgenmantel aus dem Umkleideraum und gönnte sich etwas Entspannung auf dem Bett. Seine Reisetasche bot ohnehin keine besonders große Auswahl: eine helle Leinenhose für den Tag und einen Smoking für das nächtliche Dinner, drei Hemden, Socken und Unterwäsche sowie die nötigen Toilettenartikel. Den Pyjama hatte er vergessen. Gerne hätte er aus New York auch seine japanischen Schwerter mitgenommen. Die Entscheidung, es nicht zu tun, erwies sich im Nachhinein als die einzig richtige: Barrios hatte vor Antritt des Fluges auf einer gründlichen Durchsuchung seines Passagiers bestanden.
Nach einigen Minuten der Ruhe begann David sich für den Lunch anzukleiden. Gerade als er sich das weiße Hemd zuknöpfte, klopfte es an der Tür. Ohne Eile ging er auf sie zu, und als er nach dem Knauf greifen wollte, öffnete sie sich auch schon. Er grinste. »Perfektes Timing. Ich nehme an, Sie wollen mich zum Essen abholen?«
Die beiden Lakaien verzogen keine Miene. Der eine, der sich schon vorher als der aktivere hervorgetan hatte, verbeugte sich leicht und deutete einladend den Flur hinab.
»Wie aufmerksam. Ohne Ihre Hilfe hätte ich die Tür vermutlich sowieso nicht aufbekommen.«
Wieder ging es unter die Arkaden hinaus, jetzt jedoch endete der Weg bereits auf halber Strecke vor einer Tür. Sie wurde aufgezogen und David trat in den Speisesaal.
Der weiß getünchte Raum war zwischen zehn und zwölf Meter lang und gut sechs breit. Er wurde von einer langen Tafel beherrscht, die nur am oberen Ende gedeckt war. Der Saal bekam sein Tageslicht durch ein Band aus buntem Glas, das sich auf der Wand zum Innenhof hin in etwa vier Meter Höhe über die gesamte Länge des Raumes erstreckte. An der Decke hingen drei massive Kronleuchter aus dunklem Holz und geschwärztem Eisen. Obwohl es im Speisesaal alles andere als hell war, brannte keine einzige der elektrischen Lampen, sondern nur ein sechsarmiger Kerzenständer auf dem langen Tisch. An dessen Kopfende stand ein Stuhl mit golddurchwirkter grüner Damastpolsterung in der auffallend hohen Lehne. Durch seine Form und die kunstvollen Verzierungen erinnerte er an einen Thron. Entlang der Tafel standen außerdem elf bescheidenere Sitzgelegenheiten, die sich wie ein Ei dem anderen glichen: ebenfalls hochlehnig, dunkles Holz, kunstvoll geschnitzte Armlehnen, Sitz- und Rückenflächen aus grünem Leder. Auf einem, rechts vom »Herrschersitz«, saß Manuel Barrios
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