Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
hier, Lorenzo!« David stürzte zum Ausgang.
»Was ist denn jetzt wieder los?«, fragte der andere und heftete sich an Davids Fersen.
»Ich weiß nicht, aber ich habe so ein ungutes Gefühl. In Blair Castle hatte ich es vor Negromanus’ Besuch, kurz nachdem sich das Licht in dem Rubin und einem Wasserglas gebrochen hatte.«
Zwei, drei Herzschläge lang waren nur die Schritte der beiden zu hören, dann hatte Lorenzo seine Stimme wieder gefunden: »Kannst du nicht etwas schneller laufen?«
Die Feuerprobe
Manches war ihm geblieben: der stille Humor, das Gespür für die Empfindungen anderer Menschen, die lebhaften Gesten, der fast schon »schneidende« Scharfsinn und das profunde Insiderwissen den Vatikan betreffend. Selbst äußerlich hatte sich Lorenzo Di Marco kaum verändert. Mit seinen vierundfünfzig Jahren wirkte der schlanke Mann noch jungenhaft frisch. Nur um seine Mundwinkel hatten sich zwei sichelförmige Falten eingegraben, die sein wahres Alter verrieten genauso wie seine Gewohnheit, oft und ausgiebig zu schmunzeln. Ansonsten haftete dem schmalen Gesicht etwas Zeitloses an, das durch die vollen schwarzen Haare noch unterstrichen wurde. Er schätzte ausgedehnte Spaziergänge, deliziöses Essen – was man ihm sonderbarerweise nicht ansah –, genoss gerne, wenn auch in Maßen, reife Weine, konnte in guter Literatur ebenso versinken wie in der Betrachtung meisterhafter Bilder oder dem Klang großer Musik und Lorenzo liebte das Wort Gottes. Irgendwann, irgendwie kam er immer auf die Bibel zu sprechen. Aber das störte David nicht, hatte er doch selbst in früheren Tagen immer wieder in der Heiligen Schrift nach Anleitung und Rat gesucht. Vielleicht konnte ihm Lorenzo ja Geheimnisse offenbaren, die ihm selbst bisher unzugänglich geblieben waren.
Lorenzos Heim spiegelte in gewisser Hinsicht dessen Persönlichkeit wider. Bei aller Bescheidenheit war die Einrichtung des roten Backsteinbaus ziemlich individuell. Weil ihm die nötigen Mittel zur Runderneuerung des schon etwas baufälligen Pfarrhauses fehlten, begnügte er sich mit der Nutzung von nur wenigen Zimmern: Küche, Schlafraum sowie einem kombinierten Wohn- und Arbeitsbereich. Ein Bad gab es nicht; der Abort war im Garten. Die wenigen Möbel stammten ausnahmslos aus dem letzten Jahrhundert.
Von San Clemente aus waren die beiden Freunde zunächst in die Via Vittoria d’Alibert gefahren, wo David unter Rosamaria Albertinis ungläubigen Blicken seine Habseligkeiten zusammengerafft hatte. Seine Wirtin war schockiert. Wie konnte ihr Untermieter nur eine »Männerwirtschaft« ihrer Betreuung vorziehen? Sie sprach das Wort mit wohl dosiertem Abscheu aus. Erst Davids Versicherung, dass sie die Anzahlung behalten dürfe, stimmte sie ein wenig gnädiger.
Und so tauschte er die opulente Küche der Witwe gegen die minimalistische, wenn auch nicht unbedingt asketische Verköstigung in Lorenzos Bruchbude ein. Fortan würde er über knarrende Bohlen laufen, in der Küche zwischen Trockenblumensträußen und altem Kochgeschirr aus Kupfer seine Mahlzeiten essen, die kühlen Abende vor einem knisternden Kaminfeuer verbringen und inmitten von Büchern und Papierstapeln auf einem Feldbett im Wohnzimmer schlafen.
Das Domizil des einstigen Benediktiners lag in einer ruhigen kopfsteingepflasterten Straße im Stadtteil Pafioli, unmittelbar oberhalb der Viale del Parioli. Gleich nach ihrer Ankunft hatte Lorenzo wieder seinen Zeichenblock hervorgeholt. Sie saßen auf ungepolsterten Stühlen an einem grob gezimmerten Tisch in der Küche, tranken Kaffee und visualisierten Erinnerungen. Die im Mithräum begonnenen Skizzen mussten vervollständigt werden, ehe das Gesehene in Vergessenheit geriet. Nachdem David eine Weile die Kunstfertigkeit des Freundes bewundert hatte, fragte er: »Wovon lebst du jetzt eigentlich? Etwa vom Bildermalen?«
Ohne seine Arbeit zu unterbrechen, antwortete der Zeichner: »Ich schreibe Doktorarbeiten.«
»Das musst du mir genauer erklären.«
Lorenzo schmunzelte. »Es gibt in dieser Stadt unzählige Leute, die allen Ernstes die Meinung vertreten, der Unterschied zwischen einem normalen Menschen und einem verehrungswürdigen, wenn nicht überirdischen Wesen bestehe in jenen zwei Buchstaben vor dem Namen, die einen Doktor kenntlich machen. Wie du weißt, hat Ansehen nicht unbedingt etwas mit persönlicher Leistung oder einem gefestigten Charakter zu tun. Viele, die nach einem akademischen Titel lechzen, sind stinkfaul. Ich betreibe
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