Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Ito Hirobumi erschossen hatte, ließ er sich widerstandslos festnehmen. Allerdings unter dem Hinausschreien einiger patriotischer Parolen, was ihn für die umstehenden Zeugen zu einem koreanischen Freiheitskämpfer machte. Im Übrigen war er lammfromm. Die Polizisten auf dem Revier, in das er abgeführt wurde, waren offensichtlich bestochen.« Soo-wan holte tief Luft, bevor er weitersprach. »An Chung-gun hat nie eine Gefängniszelle von innen gesehen – jedenfalls nicht wegen des Anschlags. Er wurde gegen einen anderen Mann gleichen Namens ausgetauscht.«
»Und das hat niemand bemerkt?«, fragte Ruben ungläubig.
»In Choson ist dieser Name keine Seltenheit. Vermutlich hat man sich einen Sündenbock ausgesucht, der dem echten An sehr ähnlich sah.«
»Und der ist dann hingerichtet worden«, schloss David.
Soo-wan nickte.
»Wie bist du dahinter gekommen?«
»In meinem Gepäck habe ich ein Foto von dem Attentat.«
»Wie bitte?«
Soo-wan lächelte, diesmal aber eher traurig. »Wie gesagt: Ito Hirobumi war ein sehr prominenter Mann. Auf seiner Reise durch die Mandschurei begleiteten ihn zahlreiche Reporter. So kam es, dass An Chung-gun gewissermaßen in flagranti abgelichtet wurde. Knapp zehn Jahre später erschien Ans Foto in Taegu ein zweites Mal in den Zeitungen. Diesmal stand er auf der Seite der Japaner und hatte ihnen einige Aufständler ans Messer geliefert. Es gab mehrere Hinrichtungen. Für seinen Verrat – möglicherweise sogar an alten Kampfgefährten – wurde er von den Kolonialherren nun in den Himmel gelobt.«
»Und du bist dir sicher, dass es sich um ein und denselben Mann handelt?«
»Nein.«
David schnappte nach Luft. »Aber du hast doch gesagt…«
»Er sagte nur«, ging Ruben dazwischen, »seinen Nachforschungen zufolge muss es sich so zugetragen haben.«
Soo-wan nickte. »Danke, jüngerer Freund.«
Ruben nickte zurück. »Keine Ursache, älterer Mann.«
Davids Miene war angespannt. »Hast du den Zeitungsartikel dabei, Soo-wan, den zweiten meine ich, der von An, dem Denunzianten, handelt?«
Der Professor öffnete den Koffer, der hinter ihm am Boden lag, und entnahm ihm eine größere Anzahl Papiere. Seine Nase vergrub sich tief in das raschelnde Bündel, dann hatte er die beiden angesprochenen Fotos gefunden und reichte sie David.
Das erste Bild war verschwommen und grobkörnig. Es zeigte An Chung-gun, wie er mit ausgestrecktem Arm auf Ito Hirobumi zielte. Das Konterfei des Attentäters gab für eine groß angelegte Suchkampagne allerdings nicht viel her. Ganz anders die zweite Aufnahme. Groß und scharf prangte darauf ein rundliches Gesicht mit buschigen Augenbrauen und einem verschlagenen Grinsen. Nur wenn man beide Fotos nebeneinander hielt, ließ sich erahnen, dass es sich um ein und denselben Mann handelte. Der Bericht über Ans Heldentat war in Japanisch verfasst. Als David die Spalten überflog, blieb er an einem Namen hängen. Die Schriftzeichen schienen ihn geradezu anzuspringen. Sie konnten auf zweierlei Weise gelesen werden. Entweder übersetzte man sie mit »Amur-Gesellschaft« oder »Gesellschaft Schwarzer Drache«.
»Das ist unser Mann«, sagte David. Der vergilbte Zeitungsausschnitt in seiner Hand zitterte.
Der Professor blickte ihn ebenso fragend an wie Ruben Rubinstein. »Woher willst du das wissen?«, sagten beide wie aus einem Mund und wandten sich verdutzt einander zu.
David deutete auf den Artikel. »Hier steht, An Chung-gun habe bei der ›Entlarvung der Terroristen eng mit der patriotischen Amur-Gesellschaft Mitsuru Toyamas zusammengearbeitet ‹.« Er schaute wieder zu den beiden Freunden auf. »Toyama ist der Auftraggeber des Mordes an Ito Hirobumi. Jedenfalls hat mein Vater das geglaubt und in diesem Punkt stimme ich mit ihm überein.«
»Dann haben wir jetzt also ein Foto von dem Gesuchten«, freute sich Soo-wan. »Das wird die Ermittlungen einfacher machen.«
»Ihr solltet nicht vergessen, dass zwischen dieser Aufnahme und dem heutigen Tag ungefähr dreißig Jahre liegen«, sagte Ruben im Ton eines bereits voll integrierten Bundesgenossen.
David schüttelte den Kopf. »Sollte er, wie ich vermute, ein Mitglied von Belials Bruderschaft sein, dann altert er erheblich langsamer als gewöhnliche Menschen. Sofern er sein Äußeres nicht bewusst verändert hat, müssten wir ihn erkennen. Und falls An Chung-gun tatsächlich mehrmals die Fronten gewechselt hat, erinnern sich vielleicht auch noch andere an ihn. Gibt es in Korea eigentlich noch die
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