Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
möglich. Für seine Aktivitäten brauchte er den denkbar größten Bewegungsspielraum. Auf der Fahrt vom Flughafen stellte er in Gedanken makabre Vergleiche an: Er fragte sich, ob der Krieg Seoul oder Tokyo übler zugerichtet hatte. Jedenfalls beschlich ihn das Gefühl, die Südkoreaner würden noch einige Jahre länger brauchen, um ihre Hauptstadt wieder auf Vordermann zu bringen.
Nach Überquerung des Han fuhren sie durch Namdaemun, das »Große Südtor«. Wenige Minuten später hielt das Taxi vor dem Hotel. David brannte darauf, endlich mit der Suche nach An Chung-gun zu beginnen, aber sein Freund zügelte ihn. Im Land der Morgenstille liefen die Uhren anders als in den geschäftigen Metropolen des Westens. Er solle sich in Geduld üben. Am nächsten Tag wolle Soo-wan einen alten Freund treffen und dann werde man weitersehen.
Nach dem Abendessen im Hotelrestaurant schlug Soo-wan seinem Gast einen »Verdauungsspaziergang« in einem nahe gelegenen Park vor. Toksu-gung, ein Palast aus dem fünfzehnten Jahrhundert, beherrschte das idyllische Areal.
»Der Name bedeutet in deiner Sprache ›Palast der tugendhaften Langlebigkeit«, sagte der Professor nachdenklich, als sie über die Parkwege wandelten. Inzwischen wusste er um die seinem Freund vorherbestimmte Lebensspanne. »Du könntest darin ein Motto sowohl für die nahe wie auch die ferne Zukunft sehen.«
»Glaubst du, meine Tugendhaftigkeit ist in Gefahr?«
Soo-wan wurde ernst. »Ich bin mir noch nicht ganz im Klaren, was du mit An Chung-gun vorhast.«
»Du fragst dich, ob ich ihn töten werde?«
Die Antwort des Professors war ein einziger forschender Blick.
Mit einem Mal musste David lächeln. »Es ist wahr, durch meine Hand sind bereits mehrere von Belials Schergen umgekommen, aber ich war nie derjenige, der die Initiative dazu ergriffen hat. Ob Negromanus, Toyama, Scarelli oder Ben Nedal – alle haben immer zuerst mir nach dem Leben getrachtet. Ich bin im Kreis der Dämmerung nicht gerade sehr beliebt, musst du wissen.«
Soo-wans Miene blieb ausdruckslos. »Das ist mir bekannt. Schließlich habe ich Ben Nedals Brief an den Ito-Mörder übersetzt. Sie fürchten dich. Gerade deshalb muss ich wissen, worum es dir wirklich geht, jüngerer Freund.«
»Jedenfalls nicht um Rache für Rebekkas Tod, falls es das ist, woran du gerade denkst. Ich bin kein Mörder. Aber auch kein Richter. An Chung-gun muss unschädlich gemacht werden und er soll für seine Taten büßen. Sollte er mein Leben – oder das deine – bedrohen, dann werde ich mich zur Wehr setzen, aber solange er vernünftig bleibt, werde ich ihm nichts antun.«
Endlich entspannte sich Soo-wans Gesicht. »Es ist keineswegs so, dass ich ihm eine gerechte Strafe nicht wünsche. Aber jede Gewalt…«
»Deine Erfahrungen während der japanischen Besatzung machen dir immer noch zu schaffen, stimmt’s?«
Der Professor nickte. »Ich habe in dieser Stadt vier Monate im Sodaemun-Gefängnis zugebracht und sechzehn weitere im so genannten ›Schutzhaftlager‹ von Chungju. Die Japaner liebten es, für alles und jedes Vergeltung zu üben. Schon ein schräger Blick genügte, um sie zu den übelsten Grausamkeiten anzustacheln. Während der Zeit meiner Gefangenschaft habe ich Furchtbares erlitten und bin Zeuge der schrecklichsten Gewalttaten geworden. Ich könnte es nicht ertragen, so etwas noch einmal durchzumachen. Selbst meinem schlimmsten Feind wünsche ich diese Erfahrung nicht.«
David legte dem kleinen Mann die Hand auf die Schulter. »Sei unbesorgt, älterer Freund. Ich werde mit An Chung-gun streng verfahren, aber gerecht.«
Die Adresse lautete 143 Key Dong, erster Stock, links. Das Steinhaus war während der japanischen Besatzung fast unbeschädigt geblieben und in einem erheblich besseren Zustand als die meisten koreanischen Unterkünfte. In den Kriegsjahren hatte sich die Einwohnerzahl von Seoul auf anderthalb Millionen verdoppelt. Es herrschte massive Wohnungsnot. Wie Soo-wans nervöser, aber einsilbiger Freund es schaffen wollte, die Bewohner einer intakten Einzimmerwohnung für unbestimmte Zeit auszuquartieren, konnte sich David anfangs nicht recht vorstellen, bis es ihm der Vermittler begreiflich machte. Er streckte einfach die flache Hand aus und sagte: »Zweihundert Won.«
Kaeddong – so hieß der glatzköpfige, in einer alten abgewetzten US-Uniform steckende Mann, der von seinem Bewegungsdrang her eher einem unruhigen Teenager als einem gesetzten Kriegsveteranen glich – wollte das
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