Der Krieg am Ende der Welt
Vorhut die Höhen von Canudos zu besetzen beginnt, hat er eingesetzt. Im ganzen Regiment bricht ein unbeschreiblicher Aufruhr los, Soldaten und Offiziere springen, klopfen sich gegenseitig den Rücken, trinken aus ihren Kappen, stellen sich mit ausgebreiteten Armen unter die Wassergüsse des Himmels, das weiße Pferd des Oberst wiehert, schüttelt die Mähne, piaffiert auf dem weich werdenden Boden. Der kurzsichtigeJournalist kann nur noch den Kopf heben, die Augen schließen und Mund, Nasenlöcher aufsperren, ungläubig, verzückt von diesen Tropfen, die auf seine Knochen spritzen, und steht da, so vertieft, so glücklich, daß er weder die Schüsse hört noch den Aufschrei des Soldaten, der neben ihm über den Boden kollert, stöhnend, die Hände vors Gesicht geschlagen. Als er das Durcheinander bemerkt, bückt er sich nach Schreibbrett und Tasche und legt sie sich auf den Kopf. Unter diesem kümmerlichen Schutzdach sieht er Hauptmann Olimpio de Castro seinen Revolver abschießen, Soldaten nach Deckung rennen oder sich in den Schlamm werfen. Und sieht, zwischen den schmutzstarrenden, rasch sich kreuzenden Beinen hindurch – wie eine Daguerreotypie steht das Bild in seinem Gedächtnis – Oberst Moreira César sein Pferd am Zügel nehmen, aufsitzen und mit gezogenem Säbel, ohne zu wissen, ob die anderen ihm folgen werden, auf die Caatinga zureiten, aus der geschossen worden ist. Es lebe die Republik! hat er geschrien, denkt der Journalist, es lebe Brasilien! Im bleigrauen Licht, unter Wassergüssen, im Wind, der die Bäume beutelt, beginnen Offiziere und Soldaten zu laufen, wiederholen im Chor die Hochrufe des Oberst, und plötzlich – trotz der Kälte und seiner Beklemmungen muß der Journalist vom Jornal de Notícias lachen, wenn er daran zurückdenkt – sieht er sich selbst zwischen ihnen rennen, auch er auf den Wald zu, dem unsichtbaren Feind entgegen. Er weiß noch, daß er im Vorwärtsstolpern dachte, daß er wie ein Narr in einen Kampf rannte, den er nicht führen konnte. Womit hätte er ihn führen sollen? Mit seinem Schreibbrett? Mit der Ledertasche, in der seine Wäsche und seine Papiere lagen? Mit seinem leeren Tintenfaß? Aber der Feind, selbstverständlich, zeigt sich nicht.
Was sich gezeigt hat, war schlimmer, denkt er, und wieder läuft ihm eidechsenkalt ein Schauer über den Rücken. Noch einmal sieht er, wie sich im aschgrauen, schon in Nacht übergehenden Abend die Landschaft verändert und mit diesen seltsamen, an Umburanas und Favelas hängenden Menschenfrüchten, diesen baumelnden Stiefeln, Säbelscheiden, Feldblusen, Koppeln zur Phantasmagorie wird. Manche Leichen sind schon Skelette, von Aasgeiern und Nagetieren um Augen, Bäuche, Gesäße, Schenkel, Geschlecht gebracht, und ihre Nacktheit hebt sich ab vomgespenstischen Grüngrau der Bäume und Graubraun der Erde. Jäh aufgehalten von dem ungewöhnlichen Schauspiel, geht er benommen zwischen diesen Resten von Menschen und Formen herum, dieser Zierde der Caatinga. Moreira César ist abgestiegen, und die Offiziere und Soldaten, die hinter ihm aufgebrochen sind, stehen um ihn. Sie sind versteinert. Tiefe Stille und eine spannungsgeladene Bewegungslosigkeit haben das Schreien und Rennen von vorher abgelöst. Alle schauen, und in den Gesichtern folgen auf Verblüffung und Angst Trauer und Wut. Der Kopf des jungen Leutnants ist noch heil, wenngleich ohne Augen, sein Körper ist von dunkelvioletten Wunden und vorstehenden Knochen entstellt, von schwärenden Löchern, die unter dem strömenden Regen zu bluten scheinen. Leise schaukelt er hin und her. Von diesem Moment an, noch ehe er sich entsetzen und hart werden kann, denkt der Journalist, was er nicht aufhören kann zu denken, was ihn auch jetzt umtreibt und nicht schlafen läßt: dieser Zufall, dieses Wunder, das ihn davor bewahrt hat, dort zwischen den anderen zu hängen, nackt, zerstückelt, kastriert von den Jagdmessern der Jagunços oder den Schnabelhieben der Geier. Jemand schluchzt auf. Es ist Hauptmann Olimpio de Castro, der, den Revolver noch in der Hand, den Arm vors Gesicht legt. Im Halbdunkel sieht der kurzsichtige Journalist auch andere Soldaten und Offiziere den blonden Leutnant und seine Männer beweinen. Während sie nun, schon im Dunkeln, sie abzunehmen beginnen, steht Moreira César da, die Stirn gefurcht und mit einer Härte im Gesicht, die der Journalist noch nicht an ihm gesehen hat. An Ort und Stelle werden die Soldaten, in Decken gehüllt, begraben, einer neben dem
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