Der Krieg am Ende der Welt
schmutzverkrustete Offiziere ein und aus gehen, er hört Oberst Tamarindo mit Major Cunha Matos diskutieren, er hört Moreira César Befehle erteilen. Der Oberst hat ein schwarzes Cape um und wirkt im öligen Licht formlos. Hat er einen neuen Anfall seiner mysteriösen Krankheit gehabt? Denn Doktor Souza Ferreiro steht neben ihm.
»Die Artillerie soll das Feuer eröffnen«, hört er ihn sagen. »Die Krupp-Kanonen sollen ihnen unsere Visitenkarte überreichen und sie vor dem Angriff weichklopfen.«
Als die Offiziere das Zelt verlassen, muß er zur Seite rücken, um nicht getreten zu werden.
»Sie sollen das Regimentssignal zu hören bekommen«, sagt der Oberst zu Hauptmann Olimpio de Castro.
Und gleich darauf hört der kurzsichtige Journalist das lange,schauerlich düstere Signal, das er beim Aufbruch der Kolonne in Queimadas gehört hat. Moreira César ist aufgestanden und geht halb gebückt in seinem Umhang zum Ausgang. Er schüttelt den abgehenden Offizieren die Hand, wünscht ihnen Glück.
»Na, Sie sind doch bis Canudos gekommen«, sagt er, als er den Journalisten sieht. »Ich gebe zu, daß es mich wundert. Nie hätte ich gedacht, daß Sie der einzige Korrespondent sein werden, der uns bis hierher folgt.«
Und plötzlich, an ihm nicht länger interessiert, wendet er sich an Oberst Tamarindo. An verschiedenen Punkten des Lagers erschallt, durch den Regen hindurch, das Signal Angreifen und Metzeln, und mit einemmal, in einem Augenblick der Stille, hört der kurzsichtige Journalist das Sturmgeläut von Kirchenglocken. Er weiß noch, daß er dachte, alle würden, wie er, denken: Die Antwort der Jagunços.
»Morgen werden wir in Canudos frühstücken«, hört er den Oberst sagen. Dem Journalisten setzt fast das Herz aus, denn morgen ist schon heute.
Ein starkes Jucken weckte ihn auf: Ameisenprozessionen liefen ihm über beide Arme, eine Zeile roter Punkte auf seiner Haut hinterlassend. Mit klatschenden Hieben zerquetschte er sie, während er den benommenen Kopf schüttelte. Mit einem prüfenden Blick in den Himmel und das spärlicher werdende Licht versuchte Galileo Gall die Zeit festzustellen. Immer hatte er Rufino, Jurema, die Bärtige und alle Einheimischen um die Sicherheit beneidet, mit der sie durch einen Blick auf die Sonne oder die Sterne die Tages- oder Nachtzeit angeben konnten. Wie lange hatte er geschlafen? Nicht lange, denn Ulpino war noch nicht zurück. Als er die ersten Sterne sah, erschrak er. War ihm etwas zugestoßen? War er fortgelaufen aus Angst, ihn nach Canudos bringen zu müssen? Er spürte Kälte, eine Empfindung, schien ihm, die er seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt hatte.
Stunden später, in der klaren Nacht, erlangte er die Gewißheit, daß Ulpino nicht zurückkommen werde. Er stand auf und ging, ohne zu wissen, was er wollte, in die Richtung, die das wackligeHolzschild anzeigte: Caracatá. Der schmale Weg verlor sich in einem Labyrinth dorniger Büsche, die ihn zerkratzten. Er ging zur Lichtung zurück. Es gelang ihm zu schlafen, wenngleich mit Angstgefühlen und Alpträumen, an die er sich im Morgengrauen vage erinnerte. Er war so hungrig, daß er eine ganze Weile, ohne weiter an Ulpino zu denken, Kräuter kaute, bis er seinen leeren Magen beruhigt hatte. Dann erkundete er die Umgebung, überzeugt, daß ihm nichts übrigblieb, als allein seinen Weg zu finden. Alles in allem konnte es so schwer nicht sein: er brauchte nur einer Gruppe von Pilgern zu begegnen und ihnen zu folgen. Aber wo waren sie? Der Verdacht, Ulpino könnte ihn absichtlich in die Irre geführt haben, ängstigte ihn so, daß er ihn verwarf, sobald er in seinem Kopf auftauchte. Er hatte einen dicken Knüppel, um sich einen Weg durchs Gebüsch zu bahnen. Und an der Schulter seine Tasche. Plötzlich fing es zu regnen an. Außer sich vor Erregung, leckte er die Tropfen, die auf sein Gesicht fielen, als er zwischen den Bäumen ein paar Gestalten sah. Er schrie, rief sie an, lief auf sie zu, sagte sich: endlich! – als er Jurema erkannte. Und Rufino. Jäh blieb er stehen. Durch den Wasservorhang hindurch bemerkte er, daß der Spurensucher ruhig war und daß er Jurema wie ein Tier am Strick führte. Er sah ihn den Strick loslassen und entdeckte nun auch das erschrockene Gesicht des Zwerges. Alle drei sahen ihn an, und er fühlte sich verwirrt, unwirklich. Rufino hielt ein Jagdmesser in der Hand, seine Augen waren wie glühende Kohlen.
»Von dir aus wärst du nicht gekommen, um deine Frau zu verteidigen«, hörte er
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