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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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dadurch leichter würde. Hängt er jetzt auch an einem Baum? Nicht lange nach dem Abmarsch der Patrouille kommt ein Bote dem Oberst sagen, mit der Kompanie der Kleinen sei etwas nicht in Ordnung. Die Kompanie der Kleinen! denkt er. Es ist aufgeschrieben, stecktzuunterst in der Tasche, auf die er sich gelegt hat, um sie vor dem Regen zu schützen; vier oder fünf Blätter berichten von der Geschichte dieser Halbwüchsigen, Kinder fast noch, die das Siebte Regiment einzieht, ohne sie nach dem Alter zu fragen. Warum tun sie das? Weil, sagt Moreira César, Kinder besser zielen können und stärkere Nerven haben als die Erwachsenen. Er hat sie gesehen, hat mit diesen vierzehn- oder fünfzehnjährigen Soldaten, den sogenannten »Kleinen«, gesprochen. Deshalb läuft er mit dem Oberst zur Nachhut, als er den Boten sagen hört, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung. Eine halbe Stunde später sind sie dort.
    Im Dunkel der Nacht durchschauert es ihn kalt von Kopf bis Fuß. Wieder blasen die Trompeten und hallen von fern die Glocken herüber, aber immer noch sieht er die acht oder zehn Kinder-Soldaten in der Abendsonne, hockend oder liegend auf dem Geröll. Die Kompanien der Nachhut haben sie abgehängt. Sie sind die Jüngsten, wie verkleidet sehen sie aus, halbtot vor Hunger und Müdigkeit. Erstaunt entdeckt der kurzsichtige Journalist unter ihnen seinen Kollegen. Ein Hauptmann mit Schnurrbart, offensichtlich hin- und hergerissen zwischen widersprüchlichen Gefühlen – Nächstenliebe, Güte, Zorn, Unschlüssigkeit –, empfängt den Oberst: »Sie wollen nicht weiter, Exzellenz.« Was sollte er tun? Der Journalist ist eifrig bemüht, seinen Kollegen zu überzeugen: Er solle aufstehen, sich zusammenreißen. Was er gebraucht hätte, waren nicht gute Gründe, denkt er; wenn er noch ein Atom Energie gehabt hätte, wäre er weitergegangen. Er erinnert sich an seine ausgestreckten Beine, das fahlbleiche Gesicht, den hechelnden Atem. Eines der Kinder wimmert vor sich hin: Lieber wollten sie sich erschlagen lassen, Exzellenz, sie hätten eitrige Füße, Ohrensausen, keinen Schritt mehr könnten sie gehen. Der Junge schluchzt, die Hände wie zum Gebet gefaltet, und nach und nach brechen auch die anderen Kinder-Soldaten in Tränen aus, schlagen die Hände vors Gesicht und hängen sich dem Oberst an die Beine. Er erinnert sich an Moreira Césars Blick, seine ein-, zweimal über die Gruppe streifenden kalten Augen.
    »Ich dachte, ihr würdet in der Truppe schneller zu Männern werden. Ihr bringt euch um das Beste am ganzen Fest. Ihr habt mich enttäuscht, Jungen. Um euch nicht als Deserteure zubetrachten, erkläre ich euch für untauglich. Legt eure Waffen und Uniformen ab.«
    Der kurzsichtige Journalist tritt seinem Kollegen die halbe Wasserration ab, und da ist es wieder, das Lächeln, mit dem er ihm dankt, während die Kinder mit schwachen Händen, eins auf das andere gestützt, die Feldblusen und Kappen ablegen und ihre Gewehre dem Waffenmeister aushändigen.
    »Bleibt nicht hier, wo ihr keine Deckung habt«, sagt Moreira César. »Versucht euch bis zum Felsgrund durchzuschlagen, wo wir am Morgen haltgemacht haben. Haltet euch versteckt, bis irgendeine Patrouille kommt. Es ist wahr, große Chancen habt ihr nicht.«
    Er macht kehrt und geht an die Spitze der Kolonne zurück. »An der Backofentür verbrennt das Brot, junger Freund«, flüstert sein Kollege, gleichsam als Abschied. Da ist er, der Alte, mit seinem absurden Schal um den Hals, bleibt zurück, sitzt wie ein Hilfslehrer unter halbnackten, greinenden Kleinkindern. Er denkt: Auch dort hat es geregnet. Er stellt sich die Überraschung, das Glück, die Erlösung vor, die dieser Platzregen für den Alten und die Kleinen gewesen sein muß, den der Himmel, Sekunden nachdem er sich mit dicken Wolken bezogen und verfinstert hat, herabschickt. Er stellt sich die Ungläubigkeit, das Lächeln, die gierig und genußvoll geöffneten Münder vor, die Hände, zu Schalen geformt, um das Wasser aufzufangen, er stellt sich die Halbwüchsigen vor, wie sie sich in die Arme fallen, wie sie ausgeruht, gestärkt, neu geboren aufstehen. Ob sie den Marsch wiederaufgenommen, womöglich die Nachhut eingeholt haben? Sich einrollend, bis seine Knie sein Kinn berühren, gibt sich der Journalist selber die Antwort: nein. Ihre Erschöpfung, ihr physischer Verfall waren so groß, daß nicht einmal der Regen sie wieder auf die Beine bringen konnte. Wie viele Stunden dauert dieser Regen schon? Am Abend, als die

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