Der Krieg am Ende der Welt
einzelnen Botschaften kaum noch auseinanderzuhalten sind. In der Lohgerberei haben sich bereits mehrere Dutzend Offiziere eingefunden. Einige scheinen aus der Siesta aufgeschreckt worden zu sein: sie knöpfen sich noch die Hemden zu und schnallen die Gürtel um den Rock. Der Chef der Ersten Brigade, Oberst Joaquim Manuel de Medeiros, steht auf einer Bank und spricht und gestikuliert, doch Pires Ferreira und Pinto Souza hören nicht, was er sagt, denn ringsum erschallen Hochrufe auf Brasilien und Hurras auf die Republik, und manche Offiziere werfen vor Freude ihre Mützen in die Luft.
»Was ist los, was ist los?« sagt Leutnant Pinto Souza.
»In zwei Stunden geht’s nach Canudos«, ruft euphorisch ein Hauptmann der Artillerie.
II
»Wahnsinn? Mißverständnisse? Das reicht nicht, das erklärt nicht alles«, murmelte Baron de Canabrava. »Auch Dummheit und Grausamkeit waren im Spiel.«
Plötzlich war ihm das friedfertige Gesicht von Gentil de Castro erschienen, die rosigen Bäckchen, der blonde Backenbart, wenn er sich auf irgendeinem Fest im Regierungspalast, als er selbst noch dem Kabinett des Kaisers angehörte, über Estelas Hand beugte, um sie zu küssen. Er war zart wie eine Dame, naiv wie ein Kind, gütig, hilfsbereit. Was, wenn nicht Dummheit und Grausamkeit, konnte erklären, was mit Gentil de Castro passiert war?
»Ich fürchte, daß die gesamte Geschichte daraus besteht, nicht nur Canudos«, wiederholte er, angewidert das Gesicht verziehend.
»Es sei denn, einer glaubt an Gott«, unterbrach ihn der kurzsichtige Journalist, und seine scheppernde Stimme erinnerte den Baron wieder an seine Anwesenheit. »Wie die Jagunços. Alles war transparent. Die Hungersnot, die Bombardierungen, die Erschlagenen, die Verhungerten. Der Hund oder der Vater, der Antichrist oder der gute Jesus. Sie wußten immer sofort, von wem das eine oder das andere kam, ob es heilsam war oder heillos. Beneiden Sie sie nicht darum? Alles ist einfach, wenn man in allem, was geschieht, das Gute oder das Böse identifizieren kann.«
»Ich mußte plötzlich an Gentil de Castro denken«, murmelte Baron de Canabrava. »Die ungeheure Verblüffung, als er erfuhr, warum seine Zeitungshäuser demoliert, seine Wohnung zerstört worden waren.«
Der kurzsichtige Journalist reckte den Hals. Sie saßen auf Ledersesseln einander gegenüber, zwischen ihnen ein Tischchen, auf dem ein Krug Papaya- und Bananensaft stand. Der Vormittag verging rasch, das stechende Licht, das über dem Garten lag, war schon Mittagslicht. Die Stimmen von Straßenverkäufern, die Fleisch, Papageien, Gebete, Dienstleistungen anboten, schallten über die Gartenmauer.
»Dieser Teil der Geschichte ist absolut erklärbar«, schepperteder Mann, der aussah, als ob er faltbar wäre. »Was in Rio de Janeiro, in São Paulo geschehen ist, ist logisch und rational.«
»Logisch und rational? Daß die Menge auf die Straßen stürmt, um Zeitungsverlage kurz und klein zu schlagen, um Häuser zu überfallen, um Leute totzuschlagen, die unfähig gewesen wären, Canudos auf einer Landkarte zu zeigen, und das alles, weil Tausende von Kilometern entfernt ein paar Fanatiker ein Expeditionskorps in die Flucht geschlagen haben? Das nennen Sie logisch und rational?«
»Sie waren aufgeputscht von der Propaganda«, beharrte der Kurzsichtige. »Sie haben keine Zeitungen gelesen, Baron.«
»Was in Rio geschehen ist, weiß ich von einem der Opfer«, sagte dieser. Um ein Haar wäre er selber umgebracht worden. Der Baron hatte den Visconde de Ouro Prêto in Lissabon getroffen. Einen ganzen Nachmittag hatte er mit dem alten monarchistischen Parteiführer verbracht, der im Januar, nach den schrecklichen Tagen, die Rio de Janeiro erlebte, als die Nachricht von der Niederlage des Siebten Regiments und dem Tod Moreira Csars eintraf, Brasilien überstürzt verlassen hatte und nach Lissabon geflohen war. Ungläubig, verstört, entsetzt hatte der ehemalige Würdenträger des Kaiserreichs in der Rua Marquês de Abrantes, unter dem Balkon des Hauses der Baronin de Guanabara, bei der er zu Gast war, die Demonstranten gesehen, die vom Militärclub her kamen und auf Transparenten seinen Kopf verlangten, ihn verantwortlich machten für die Niederlage in Canudos. Kurz darauf sei ein Bote erschienen, um ihm auszurichten, daß auch sein Haus, wie die Häuser anderer bekannter Monarchisten, zerstört worden sei und daß seine Zeitungen, die Gazeta de Notícias und A Liberdade , in Flammen stünden.
»Der englische
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