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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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über Fliegen phantasierend den Rest seiner Tage zu verbringen. In Augenblicken wie diesem vergißt er in seiner Bitterkeit, daß er ein Privilegierter ist, weil er ein Zimmer für sich allein hat, noch dazu im Hotel Continental, diesem Nonplusultra für Tausende von Soldaten und Offizieren, die zu zweit oder zu viert in die vom Heer requirierten oder gemieteten Zimmer gepfercht sind oder – die große Mehrheit – in den am Itapicurú aufgeschlagenen Baracken schlafen. Seine Dienstjahre geben ihm das Anrecht auf ein Zimmer im Hotel Continental. Er ist hier, seit das Siebte Regiment in Queimadas angekommen ist und Oberst Moreira César ihm die demütigende Funktion übertragen hat, sich um die Kranken der Nachhut zu kümmern. Von diesem Zimmer aus hat er die Ereignisse gesehen, derentwegen sich der Sertão, Bahia und Brasilien in Krämpfen winden: den Aufbruch Moreira Césars in Richtung Monte Santo und die überstürzte Rückkehr der Überlebenden nach der Katastrophe. Danach hat er Woche um Woche den Zug aus Salvador einfahren und Soldaten ausspucken sehen: Berufssoldaten, Polizeieinheiten und Regimenter von Freiwilligen, die aus allen Landesteilen in dieses von Fliegen beherrschte Städtchen kamen, um die toten Patrioten zu rächen, die Ehre der gedemütigten Institutionen zu retten und die Souveränität der Republik wiederherzustellen. Von diesem Hotel Continental aus hat Leutnant Pires Ferreira gesehen, wie diese Dutzende und Aberdutzende begeisterter und tatendurstiger Kompanien sich verfingen in einem Spinnennetz, in welchem sie entweder untätig und bewegungslos festsitzen oder sich mit Sorgen herumschlagen müssen, die mit den hochherzigen Idealen, die sie hierher führten, wenig zu tun haben: Streit, Diebstahl, Mangel an Wohnraum, an Essen, an Fahrzeugen, an Feinden, an Frauen. Tags zuvor hat Leutnant Pires Ferreira an einer Besprechung mit Offizieren des Dritten Infanteriebataillons teilgenommen – es ging um einen ausgewachsenen Skandal, das Verschwinden von hundert Gewehren Comblain und fünfundzwanzig Kisten Munition – und nach Verlesung eines Befehls, demzufolge die Urheber des Diebstahls, außer bei sofortiger Rückgabe, ohne Gerichtsverhandlung an die Wand gestellt werden sollten, hat Oberst JoaquimManuel de Madeiros ihnen gesagt, das größte Problem – den gewaltigen Troß des Expeditionskorps nach Canudos zu bringen – sei noch nicht gelöst und daher über den Abmarsch aus Queimadas nichts beschlossen.
    Jemand klopft an die Tür, und Leutnant Pires Ferreira sagt »Herein«. Seine Ordonnanz kommt, ihn an die Züchtigung für den Soldaten Queluz zu erinnern. Während er sich gähnend anzieht, versucht er sich an das Gesicht dieses Soldaten zu erinnern, den er, wie er sicher weiß, schon vor einer Woche oder einem Monat ausgepeitscht hat, möglicherweise für das gleiche Vergehen. Welches? Er kennt sie alle: kleine Diebstähle im Regiment oder bei den Familien, die Queimadas noch nicht verlassen haben; Schlägereien mit Soldaten anderer Heeresgruppen; versuchte Desertion. Der Hauptmann seiner Kompanie überträgt ihm oft die Auspeitschungen, mit denen die durch Langeweile und Entbehrungen zerfallende Disziplin aufrechterhalten werden soll. Es gefällt Leutnant Pires Ferreira nicht besonders, Rutenhiebe zu verabreichen. Aber es mißfällt ihm auch nicht mehr, es ist Teil der Routine in Queimadas geworden, wie schlafen, sich anziehen, essen, den Soldaten die Teile einer Mannlicher oder einer Comblain zu erklären oder ihnen das mit dem Angriffs- oder dem Verteidigungskarree auseinanderzusetzen oder über Fliegen zu philosophieren. Leutnant Pires Ferreira verläßt das Hotel und geht die Avenida Itapicurú hoch, die steinige, bis zur Kirche Santo Antônio ansteigende Hauptstraße. Über die Dächer der grün, blau und weiß gestrichenen Häuser hinweg observiert er die mit dürren Büschen bestandenen Hügel rund um Queimadas. Arme Infanterie-Kompanien, in Ausbildung auf diesen glühendheißen Bergen! Hundertmal hat er selbst die Rekruten dahin geführt und gesehen, wie sie sich naßschwitzen und manchmal ohnmächtig zusammenbrechen. Vor allem die Freiwilligen aus den kalten Gegenden fallen um wie Küken, wenn sie eine Zeitlang mit dem Tornister auf dem Rücken und geschultertem Gewehr durch die Wüste marschieren.
    Um diese Stunde sind die Straßen von Queimadas nicht dieses Gewimmel von Uniformen, diese Musterkollektion der Sprachvarianten Brasiliens, das sie am Abend werden, wenn Soldaten und

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