Der Krieg am Ende der Welt
Nacht, der Himmel gefleckt von Sternen. Nachdem er seinen Männern eingeschärft hat, sich nicht von der Stelle zu rühren, steigt der ehemalige Sklave neben dem jungen Macambira lautlos über das Geröll ab. Schlimm, daß er bei so vielen Sternen die zerschossenen, von Urubus zerfressenen Pferde und die Leiche der alten Frau sehen wird. Schon den ganzen Tag und den Abend davor hat er diese Tiere gesehen, Reittiere der Offiziere, die ersten Opfer in jedem Gefecht. Er ist sicher, daß auch er einige getötet hat. Er mußte es tun, sie standen dem Vater und dem guten Jesus und Belo Monte im Wege, dem Kostbarsten in diesem Leben. Er wird es wieder tun, sooft es nötig ist. Aber etwas in seiner Seele sträubt sich und leidet, wenn er diese Tiere aufwiehernd zusammenbrechen und dann Stunde um Stunde, die Eingeweide auf dem Boden und die Luft verpestend, mit dem Tode ringen sieht. Er weiß, woher ihm dieses Schuldgefühl kommt, das ihn beschleicht, wenn er auf die Pferde der Offiziere schießt. Es ist die sorgsame Pflege, mit der die Pferde auf der Fazenda behandelt wurden, die fast religiöse Verehrung für das Pferd, die Adalberto de Gumúcio seinen Verwandten, Angestellten und Sklaven eingeimpft hat. Da sieht er die Leiche der alten Frau und spürt, wie ihm alles Blut ins Herz strömt. Nur eine Sekunde lang hat er sie gesehen, das vom Mond beschienene Gesicht, die offenen, irr blickenden Augen, die zwei einzigen über die Lippen herausstehenden Zähne, das wirre Haar, die verzerrte Stirn. Ihren Namen weiß er nicht, aber er kennt sie gut: vor langer Zeit kam sie nach Belo Monte und siedelte sich mit ihrer zahlreichen Familie – Söhnen, Töchtern, Enkeln, Neffen, angenommenen Kindern – in einem Lehmhäuschen in der Rua Coração de Jesus an. Es war das erste Haus, das die Kanonen des Halsabschneiders zerstörten. Die Alte war mit der Prozession gegangen, und alssie heimkehrte, war ihr Haus ein Trümmerhaufen, und darunter lagen drei ihrer Töchter und alle ihre Enkel begraben, ein Dutzend Kinder, die eng aneinandergedrängt in zwei Hängematten und auf dem Boden geschlafen hatten. Vor drei Tagen war die alte Frau mit der Katholischen Wachmannschaft zu den Schützengräben an der Schlucht von Umburanas hinaufgeklettert, um mit ihr die Soldaten zu erwarten. Mit anderen Frauen hatte sie gekocht und den Jagunços Wasser von der Wasserstelle gebracht, doch als die Schießerei begann, sahen João Grande und seine Männer sie plötzlich mitten im Pulverdampf übers Geröll bergab stolpern, hinunter in die Schlucht, wo sie langsam, ohne alle Vorsicht, zwischen den verwundeten Soldaten herumging und sie erdolchte. Sie hatten sie an den Leichen der Uniformierten zerren sehen, und ehe sie von Kugeln niedergestreckt wurde, hatte sie schon ein paar von ihnen ausgezogen, ihre Männlichkeit abgeschnitten und ihnen in den Mund gesteckt. Noch im Kampf, während er Soldaten und Reiter an sich vorbeiziehen sah, sah, wie sie starben, schossen, rannten, wie sie auf ihre Verletzten und Toten traten, um vor dem Kugelregen zu fliehen, und Hals über Kopf den einzigen freien Weg einschlugen, den zur Favela, hatte João Grande immer wieder die Augen umgewandt nach der Leiche der alten Frau, die sie jetzt hinter sich ließen.
Als sie an einen mit Favelas, Kakteen, einzelnen Imbuzeiros bestandenen Morast kommen, setzt der junge Macambira die Holzpfeife an den Mund und bläst einen Ton, der sich wie der Laut eines kleinen Papageis anhört. Ein anderer, gleicher Ton antwortet ihm. Dann nimmt der Junge João Grande am Arm und führt ihn durch den Morast, in dem sie bis an die Knie einsinken, und kurz danach hockt der ehemalige Sklave unter Büschen, um die rings Pupillen funkeln, neben Joaquim Macambira und trinkt süßlich schmeckendes Wasser aus einem Schlauch.
Der Alte ist unruhig, doch zu seiner Überraschung entdeckt João Grande, daß seine Sorge ausschließlich der großen, langen, glänzenden, von vierzig Ochsen gezogenen Kanone gilt, die er auf dem Weg nach Jueté gesehen hat. »Wenn die Metzlerin schießt, werden die Türme und die Mauern des Tempels einstürzen, und Belo Monte wird verschwinden«,murmelt er düster. João Grande hört ihm aufmerksam zu. Joaquim Macambira flößt ihm Respekt ein, etwas Ehrwürdiges, Patriarchalisches ist an ihm. Er ist sehr alt, sein weißes Haar fällt ihm in Locken bis auf die Schultern, und das Gesicht mit der klobigen Nase ist aufgehellt durch einen kurzen weißen Bart. In seinen Augen brennt eine
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