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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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den Eindruck, daß sie die Schützenlöcher noch nicht gesehen haben, daß sie über ihre Köpfe hinweg auf Canudos zielen, weil sie glauben, die Salven, die ihre Speerspitze gefällt haben, kämen vom Tempel des guten Jesus. Der Pulverdampf verdichtet sich, und schwarze Wirbel umhüllen und verdecken vorübergehend ganz die Atheisten, die geduckt, eng aneinander mit erhobenen Gewehren und blankem Bajonett vorrücken, gelenkt von Trommeln und Trompeten und dem Befehl: Infanterie, vorwärts!Zweimal schießt der ehemalige Kaufmann seinen Revolver leer. Die heißgeschossene Waffe verbrennt ihm die Hand, so daß er sie wegsteckt und nach seiner Mannlicher greift. Er zielt, schießt, sucht sich dabei in den feindlichen Einheiten immer diejenigen heraus, die durch Säbel, Tressen oder Gebärden Befehlshaber zu sein scheinen. Als er die verstörten, verzerrten Gesichter dieser Häretiker und Pharisäer sieht, die einzeln oder zu zweit oder zu zehnt unter Kugeln fallen, von denen sie nicht wissen, woher sie kommen, fühlt er plötzlich Mitleid. Wie können sie, die Belo Monte vernichten wollen, sein Mitleid erregen? Ja, in dem Moment, in dem er sie zusammenbrechen sieht, sie stöhnen hört, auf sie zielt und sie tötet, haßt er sie nicht: er ahnt ihre Heillosigkeit, ihr sündiges Menschsein, er weiß, daß sie blinde, unwissende Werkzeuge, daß sie Opfer in den Schlingen des Bösen sind. Hätte nicht allen das gleiche passieren können? Ihm selbst, wenn ihn nicht dank der Begegnung mit dem Ratgeber der Engel gestreift hätte?
    »Links, Compadre«, stößt ihn Honório mit dem Ellenbogen an. Er schaut hin und sieht: Lanzenreiter. Zweihundert oder mehr. Fünfhundert Meter links von ihm haben sie das Flußbett durchquert und stellen sich nun unter dem frenetischen Schmettern einer Trompete zu Pelotons auf, um diese Flanke anzugreifen. Sie sind außerhalb der Gefechtslinie der Schützengräben. Blitzschnell erkennt er, was geschehen wird. Die Reiter werden quer über die zerklüfteten Hügel zum Friedhof vordringen, und da kein Schützengraben in dieser Richtung liegt, der sie aufhalten könnte, werden sie in wenigen Minuten Belo Monte erreichen. Die Fußtruppen werden ihnen folgen, wenn sie sehen, daß der Weg frei ist. Weder Pedräo noch João Grande, noch Pajeú haben Zeit gehabt, sich in die Stadt zurückzuziehen, um mit ihren Männern die auf den Dächern und Türmen der Kirchen und des Sanktuariums verschanzten Jagunços zu verstärken. Da greift er, ohne zu wissen, was er tun wird, geleitet vom Wahnwitz dieses Augenblicks, nach der Munitionstasche, springt aus dem Schützenloch und schreit Honório zu: »Wir müssen sie aufhalten, mir nach, mir nach!« Er beginnt zu laufen, gebückt, in der Rechten die Mannlicher, in der Linken den Revolver, wie im Traum oder im Rausch. In diesem Augenblick ist die Todesangst, die ihn manchmalschweißgebadet aus dem Schlaf hochreißt oder ihm in einer belanglosen Unterhaltung das Blut erstarren läßt, verschwunden, und hochmütige Verachtung ergreift ihn bei dem Gedanken, er könnte verwundet werden oder getilgt aus dem Kreis der Lebenden. Während er schnurgerade auf die Reiter zuläuft, die sich, zu Pelotons formiert, in Trab gesetzt haben und sich, Staub aufwirbelnd, in Serpentinen vorwärtsbewegen – auf dem welligen Gelände sieht er sie verschwinden und wieder auftauchen –, sprüht der Amboß, der sein Kopf ist, von Gedanken, Erinnerungen, Bildern. Er weiß, daß diese Lanzenreiter dem Gaucho-Bataillon aus dem Süden angehören: auf seinen Streifzügen nach Vieh hat er sie manchmal hinter der Favela gesehen. Er denkt, daß keiner dieser Reiter Canudos betreten wird, daß João Grande und die Katholische Wachmannschaft, die Neger von Mocambo oder die pfeilgewandten Kariris ihre Pferde, die so großartige Ziele sind, töten werden. Und er denkt an seine Frau und seine Schwägerin und fragt sich, ob sie mit den anderen Frauen nach Belo Monte zurückgekehrt sind. Und zwischen Gesichtern, Hoffnungen, Phantasien erscheint ihm Assaré, das Dorf an der Grenze von Ceará, in das er nicht mehr zurückgekehrt ist, seit er es auf der Flucht vor der Pest verlassen hat. In Augenblicken wie diesem, wenn er fühlt, daß er eine Grenze berührt, ein Äußerstes betritt, jenseits derer nur noch das Wunder oder der Tod möglich ist, erscheint ihm sein Dorf.
    Als ihm die Beine versagen, läßt er sich fallen, und so, ausgestreckt, ohne Deckung zu suchen, legt er das Gewehr an die Schulter und

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