Der Krieg am Ende der Welt
den Satz: »Also sind sie schon unterwegs, Compadre.« In einem Abstand von fünfzehn, zwanzig Schritt sind die Schützenlöcher auf einem halben Kilometer Länge und ein paar hundert Meter Tiefe verteilt. Die Jagunços, die zu zweit und zu dritt darin stehen, sind so gut verborgen, daß die Vilanova sie erst sehen, wenn sie sich zumSprechen zu ihnen hinunterbücken. Viele haben Metallröhren, ein Zuckerrohr oder ausgehöhlte Äste, mit denen sie nach außen blicken können, ohne gesehen zu werden. Die meisten Männer schlafen oder dösen zusammengerollt, die Mannlicher, Mauser und Stutzen, die Munitionstaschen und Pulverhörner griffbereit neben sich. Honório hat den Vaza Barris entlang Wachen aufgestellt: ein paar sind die Schluchten hinuntergestiegen und haben das – hier völlig trockene – Flußbett und das andere Ufer erkundet, ohne auf eine Patrouille zu stoßen. Auf dem Rückweg zu ihrem Unterstand unterhalten sie sich. Nach den vielen Stunden Bombardement wirkt die Stille mit den krähenden Hähnen seltsam. Der Angriff auf Canudos sei ihm unvermeidlich erschienen, bemerkt Antônio, seit diese Kolonne Verstärkung – mehr als fünfhundert Soldaten – trotz der verzweifelten Anstrengungen Pajeús, der sie von Caldeirão an bedrängte und ihr doch nur ein paar Rinder abjagen konnte, unversehrt auf die Favela gelangt sei. Honório fragt, ob es stimme, daß die Truppen in Jueté und Rosario, wo sie früher nur durchzogen, Kompanien stationiert hätten. Ja, es stimmte. Antônio schnallt den Gürtel auf und legt sich, den Arm als Kissen benutzend, den Hut ins Gesicht ziehend, in das Schützenloch, das er mit seinem Bruder teilt. Sein Körper entspannt sich dankbar in der Ruhestellung, aber seine Ohren bleiben wachsam, bemüht, im anbrechenden Tag Anzeichen von Soldaten aufzufangen. Nachdem er eine Zeitlang über unzusammenhängende Bilder dahintreibt, konzentriert er sich plötzlich auf diesen Mann, dessen Körper den seinen berührt. Honório, zwei Jahre jünger als er, der ruhige, zurückhaltende Mann mit dem hellen, lockigen Haar, ist mehr als sein Bruder und Doppelschwager: er ist sein Gefährte, sein Compadre, sein Vertrauter, sein bester Freund. Nie haben sie sich getrennt, nie einen ernsthaften Streit gehabt. Ist Honório, wie er selbst, in Belo Monte aus Verbundenheit mit dem Ratgeber und allem, was er bedeutet: Religion, Wahrheit, Rettung der Seele, Gerechtigkeit? Oder aus Treue zu seinem Bruder? Nie in all den gemeinsam in Canudos verbrachten Jahren hat er sich diese Frage gestellt. Als ihn der Engel streifte und er seine Geschäfte aufgab, um die Geschäfte von Canudos in die Hand zu nehmen, schien es ihm ganz natürlich, daß sein Bruder und seineSchwägerin, wie jedesmal, wenn ein Unglück ihnen neue Ziele setzte, ebenso bereitwillig wie seine Frau den Wechsel in ihrem Leben akzeptierten. So war es auch gewesen: klaglos hatten sich Honório und Assunção seinem Willen gebeugt. Damals, als Moreira César Canudos angriff, an jenem Tag der endlosen Straßenkämpfe, war ihm zum erstenmal der Verdacht aufgestiegen, möglicherweise werde Honório nicht um einer Sache willen, an die er glaubte, sondern aus Respekt vor seinem älteren Bruder hier sterben. Als er mit Honório darüber sprechen wollte, spottete der: »Sie glauben doch nicht, daß ich meine Haut riskiere, nur um an Ihrer Seite zu stehen, Compadre?« Doch anstatt seine Zweifel zu zerstreuen, hatte der Scherz sie nur verstärkt. Er hatte es dem Ratgeber gesagt: »Aus Egoismus habe ich über Honório und seine Familie verfügt, ohne je zu fragen, was sie selber wollten, als wären sie Möbel oder Schafe.« Der Ratgeber fand einen Balsam für diese Wunde: »Wenn es so ist, hast du ihnen geholfen, Verdienste zu sammeln, um in den Himmel zu kommen.«
Er fühlt, daß er geschüttelt wird, zögert aber, die Augen zu öffnen. Die Sonne glänzt am Himmel, und Honório, den Finger auf den Lippen, bedeutet ihm, still zu sein.
»Sie sind da, Compadre«, flüstert er mit ruhiger Stimme.
»Diesmal sind wir dran, sie zu empfangen.«
»Welche Ehre, Compadre«, antwortet Antônio mit teigiger Stimme.
Er kniet sich im Schützenloch hin. Von der Uferböschung auf der anderen Seite des Vaza Barris kommt im strahlenden Morgen, mit blauen, bleifarbenen, roten Uniformen, blitzend von Knöpfen, Degen, Bajonetten, ein Meer von Soldaten auf sie zu. Das also ist es, was seine Ohren schon seit einer Weile registriert haben: Trommelwirbel und Trompetensignale.
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