Der Krieg am Ende der Welt
Ameisen rösten sie und schlucken sie hinunter, um den Hunger zu stillen.
Der Krieg besteht aus einzelnen Schüssen von Barrikade zu Barrikade. Die Gegner beschränken sich darauf, sich von ihren Stellungen aus zu bespähen; wenn sie ein Profil, einen Kopf, einen Arm sehen, geht ein Schußwechsel los. Er dauert nur ein paar Sekunden. Dann nistet sich wieder die Stille ein, die ebenfalls ein Morast ist, abstumpfend, hypnotisch. Durchbrochen wird sie von den verlorenen Kugeln, die aus den Türmen und dem Sanktuarium abgeschossen werden, nicht auf bewegliche Ziele, sondern auf die baufälligen, von Soldaten besetzten Wohnhäuser; sie durchschlagen die leichten, aus Latten und Lehm bestehenden Wände und verletzen oder töten nicht selten schlafende oder sich anziehende Soldaten.
An diesem Abend spielt General Oscar im Haus des Feuerwerkers Karten mit Leutnant Pinto Souza, Oberst Neri (der sich von seiner Verwundung erholt) und zwei Hauptleuten seines Generalstabs. Sie sitzen auf Kisten, eine Öllampe gibt ihnen Licht. Plötzlich sind sie in eine Diskussion über Antônio Conselheiro und die Banditen verwickelt. Einer der Hauptleute, der aus Rio stammt, sagt, schuld an Canudos sei die Mestizierung, diese Mischung aus Negern und Indios und Portugiesen: sie hätte nach und nach die Rasse verhunzt und diese inferiore, zu Aberglauben und Fanatismus neigende Mentalität erzeugt. Oberst Neri bestreitet diese Ansicht auf das entschiedenste. Hat es Rassenmischungen nicht auch in anderen Teilen Brasiliens gegeben, ohne daß ähnliche Phänomene aufgetreten wären? Wie Oberst Moreira César, den er verehre, ja fast vergöttere, glaube auch er, Canudos sei das Werk von Feinden derRepublik, von restaurationslüsternen Monarchisten, ehemaligen Sklavokraten und Privilegierten, die diese ungebildeten Menschen aufgehetzt und irregeleitet und ihnen den Haß auf den Fortschritt eingepflanzt hätten. »Nicht die Rasse, die Unwissenheit ist die Erklärung für Canudos«, behauptet er. General Oscar, der dem Gespräch interessiert zuhört, ist sich unschlüssig, als er um seine Meinung gefragt wird. Er zögert. Ja, sagt er endlich, ohne die Unwissenheit dieser Enterbten hätten die Aristokraten sie nicht derart fanatisieren und gegen alles aufhetzen können, was ihre eigenen Interessen bedrohe, denn die Republik garantiere Gleichheit zwischen den Menschen, und das stehe im Widerspruch zu den Privilegien, auf denen jedes aristokratische Regime basiere. Aber innerlich steht er dem, was er sagt, skeptisch gegenüber. Als die anderen gehen, grübelt er in seiner Hängematte. Wie ist Canudos zu erklären? Erbliche Minderwertigkeit des Halbbluts? Unbildung? Das unausweichliche Barbarentum von Menschen, die an Gewalt gewöhnt und aus Atavismus zivilisationsfeindlich sind? Hat es etwas mit der Religion, mit Gott zu tun? Nichts befriedigt ihn.
Am nächsten Tag rasiert er sich eben ohne Spiegel und Seife mit einem Barbiermesser, das er selbst an einem Wetzstein geschliffen hat, als er Galoppieren hört. Er hat angeordnet, daß die Wege zwischen der Favela und der »schwarzen Linie« zu Fuß zurückgelegt werden, da Reiter den Jagunços auf den Türmen ein allzu leichtes Ziel bieten. Also geht er hinaus, um die Zuwiderhandelnden zurechtzuweisen. Er hört Hurras und Hochrufe. Die Ankömmlinge, drei Reiter, haben das freie Gelände unversehrt überquert. Der Leutnant, der neben ihm absitzt und die Hacken zusammenschlägt, stellt sich als Chef des Aufklärungspelotons der Brigade General Girard vor, die zur Verstärkung unterwegs sei. In ein paar Stunden werde die Vorhut eintreffen. Der Leutnant fügt hinzu, daß die viertausendfünfhundert Soldaten und Offiziere der zwölf Bataillone von General Girard darauf brennen würden, sich unter seinen Befehl zu stellen, um die Feinde der Republik niederzuwerfen. Endlich, endlich wird der Alptraum Canudos ein Ende haben, für ihn und für Brasilien.
V
»Jurema?« sagte der Baron überrascht. »Jurema aus Calumbí?«
»Es geschah in dem schrecklichen Monat August«, wich der kurzsichtige Journalist aus. »Im Juli hatten die Jagunços die Soldaten innerhalb der Stadt gestoppt. Aber im August kam die Brigade Girard. Fünftausend Mann mehr, zwölf Bataillone mehr, Tausende von Waffen mehr, Dutzende von Kanonen mehr. Und Essen in Hülle und Fülle. Was konnten sie noch hoffen?«
Aber der Baron hörte ihn nicht.
»Jurema?« wiederholte er. Er konnte seinem Besucher anmerken, mit welchem Entzücken, welcher
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