Der Krieg am Ende der Welt
Mann wurden gefangengenommen. Der General sucht sie auf. Der Morgen dämmert, ein bläulicher Schimmer steigt hinter den Hügeln auf. Der Wind ist so kalt, daß General Oscar sich eine Decke überwirft, während er mit großen Schritten über das freie Gelände geht. Die Krupp-Kanonen sind zum Glück unversehrt. Aber der wilde Kampf und die toten Kameraden haben die Artilleristen und Infanteristen so verbittert, daß General Oscar die Gefangenen halb erschlagen vorfindet. Sie sind sehr jung, manche noch Kinder, und zwei Frauen sind dabei. Alle sind bis aufs Skelett abgemagert. Für General Oscar eine Bestätigung dessen, was alle Gefangenen zugeben: die große Lebensmittelknappheit bei den Banditen. Seine Leute erklären ihm, daß es die Frauen und die Kinder waren, die schossen, während die Jagunços versuchten, die Kanone mit Picken, Keulen, Knüppeln und Hämmern kaputtzuschlagen oder mit Sand zu verstopfen. Ein gutes Zeichen: schon zum zweiten Mal versuchen sie es; die Krupp 7,5 setzen ihnen zu. Wie die Frauen, tragen auch die Kinder blaue Armbinden. Die anwesenden Offiziere sind angewidert von einer solchen Barbarei: Kinder und Frauen in den Kampf zu schicken erscheint ihnen als der Gipfel menschlicher Verworfenheit, als Hohn auf die Kunst und Ethik des Krieges. Im Abgehen hört General Oscar die Gefangenen, denen klar ist, daß sie nun hingerichtet werden, Hochrufe auf den guten Jesus ausbringen. Ja, die drei Generale, die es ablehnten, nach Canudos zu gehen, wußten,was sie taten; sie hatten vorausgesehen, daß es keinem Soldaten Freude bereiten wird, gegen Kinder und Frauen zu kämpfen, die töten, die man deshalb ebenfalls töten muß und die mit Hochrufen auf den guten Jesus sterben. Sein Mund ist bitter, als hätte er Tabak gekaut.
Dieser Tag verläuft ohne Zwischenfälle an der »schwarzen Linie«, und das, denkt der Chef der Expedition, wird bis zur Ankunft der Verstärkung alle Tage so sein: vereinzelte Schußwechsel an den Barrikaden, die sich drohend und störrisch gegenseitig herausfordern; Schimpfturniere über die Wälle hinweg, ohne daß Schimpfende und Beschimpfte sich ins Gesicht sehen, und die Kanonaden – wegen der knapper werdenden Munition immer kürzere – auf die Kirche und das Sanktuarium. Sie haben praktisch nichts mehr zu essen, außer den zehn Kühen in dem Pferch hinter der Favela und ein paar Sack Kaffee und Korn. Er kürzt die schon vorher winzigen Rationen der Truppe um die Hälfte.
An diesem Abend erhält General Oscar eine erstaunliche Nachricht: eine Jagunço-Familie, vierzehn Personen, läßt sich im Lager der Favela freiwillig gefangennehmen. So etwas ist seit Beginn des Feldzugs noch nicht dagewesen. Die Nachricht ermutigt ihn außerordentlich. Mutlosigkeit und Hunger müssen die Moral der Kannibalen untergraben haben. Er selbst befragt die Jagunços auf der Favela. Es sind drei jämmerliche Greise, ein Ehepaar und rachitische Kinder mit aufgeblähten Bäuchen. Sie sind aus Ipueiras, und glaubt man den Überläufern, denen bei Beantwortung der Fragen vor Angst die Zähne klappern, sind sie erst seit anderthalb Monaten in Canudos; nicht aus Verehrung für den Ratgeber seien sie in die Stadt geflüchtet, sondern aus Angst, weil sie erfahren hätten, daß ein großes Heer im Anmarsch sei. Um den Banditen zu entkommen, hätten sie gesagt, sie gingen, an der Straße nach Cocorobó Schützenlöcher ausheben, und das hätten sie auch bis zum Abend getan. Dann hätten sie eine Unachtsamkeit Pedrãos genutzt, um fortzulaufen. Den ganzen Tag hätten sie gebraucht, um auf die Favela zu gelangen. Sie geben General Oscar alle Informationen über die Lage im Bau der Banditen und entwerfen ein Bild von den dort herrschenden Zuständen, das schauriger, schlimmer ist als alles, was der General vermutethat: Hunger, überall Verwundete und Tote, allgemeine Panikstimmung. Und sie versichern, daß sich die Leute ergeben würden, wenn nicht Cangaceiros wie João Grande, João Abade, Pajeú und Pedrão geschworen hätten, sämtliche Verwandte jedes Deserteurs zu töten. Der General nimmt ihnen nicht alles ab, was sie sagen: sie sind so offensichtlich verschreckt, daß sie jeden Schwindel erzählen würden, um seine Sympathie zu gewinnen. Er befiehlt, sie in den Rinderpferch zu sperren. Das Leben all derer, die sich wie diese Familie ergäben, würde verschont werden. Auch seine Offiziere zeigen sich optimistisch; einige sagen vorher, der Banditenbau werde an innerer Schwäche zugrunde gehen,
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