Der Krieg am Ende der Welt
Gedanken. Ein Trupp Jagunços stürmt plötzlich – aus der Erde hervor, als hätten sie einen Tunnel unter der »schwarzen Linie« gegraben – gegen ein Versatzstück der Barrikade, offenbar in der Absicht, diese zu durchbrechen. Der Angriff kommt überraschend für die Soldaten, die ihre Stellungen aufgeben, aber eine Stunde später werden die Jagunços unter großen Verlusten zurückgeschlagen. General Oscar und seine Offiziere kommen zu dem Schluß, der Angriff habe das Ziel gehabt, die Schützengräben in Fazenda Velha zu entlasten. Deshalb sind alle Offiziere dafür, diese Schützengräben, koste es, was es wolle, zu nehmen: desto früher werde sich der Bau ergeben. General Oscar verlegt drei Maschinengewehre von der Favela an die »schwarze Linie«.
An diesem Tag kehren die Lanzenreiter mit dreißig Kühen ins Lager zurück. Die Truppe genießt den Schmaus, der allgemein die Stimmung hebt. General Oscar inspiziert die zwei Feldlazarette, wo letzte Vorbereitungen für den Abtransport der Kranken und Verwundeten getroffen werden. Um vorzeitige Abschiedsszenen zu vermeiden, hat er beschlossen, die Namen der für den Transport Bestimmten erst im letzten Moment bekanntzugeben.
An diesem Abend zeigen ihm die Artilleristen freudestrahlend vier Kisten voll Geschosse für die Krupp 7,5. Eine Patrouille hat sie auf dem Weg nach Umburanas gefunden. Die Geschosse sind in tadellosem Zustand, und General Oscar genehmigt, was der für die Kanonen auf der Favela zuständige Leutnant Macedo Soares »ein Feuerwerk« nennt. Neben den Kanonieren, wie sie sich die Ohren mit Watte verstopfend, verfolgtGeneral Oscar die siebzig Schuß, die alle auf das Zentrum des Widerstands der Verräter gerichtet sind. Zwischen den von den Einschlägen aufgewirbelten Staubwolken beobachtet er gespannt die hohen, wie er weiß, mit Fanatikern voll besetzten Türme. Obwohl sie schartig und voller Löcher sind, halten sie stand. Wie kann der Glockenturm der Kirche Santo Antônio noch stehen, der wie ein Sieb aussieht und schiefer ist als der berühmte Turm von Pisa? Sehnlichst hofft er während der ganzen Bombardierung, diesen baufälligen Turm einstürzen zu sehen. Gott müßte ihm dieses Geschenk machen, um ihn wieder ein wenig zu begeistern. Aber der Turm fällt nicht.
Am nächsten Morgen ist er in aller Frühe auf, um die Verwundeten zu verabschieden. Sechzig Offiziere und vierhundertachtzig Soldaten ziehen ab, alle, von denen die Ärzte glauben, sie seien in der Verfassung, Monte Santo zu erreichen. Unter ihnen ist General Savaget, der Chef der Zweiten Kolonne, der seit seiner Ankunft wegen seines Bauchschusses nicht einsatzfähig ist. General Oscar ist froh, daß er geht, denn obwohl ihre Beziehungen herzlich sind, fühlt er sich unbehaglich diesem General gegenüber, ohne dessen Eingreifen die Erste Kolonne zweifellos vernichtet worden wäre. Daß es den Banditen gelungen ist, ihn mit solchem taktischen Geschick in diesen Schlachthof zu locken, ist für General Oscar trotz mangelnder anderer Beweise noch immer ein Grund zu der Annahme, die Jagunços würden vielleicht doch von monarchistischen Offizieren, sogar von Engländern beraten. Obwohl diese Möglichkeit in den Besprechungen mit den Offizieren nicht mehr erwähnt wird.
Der Abschied zwischen den abziehenden Verwundeten und denen, die zurückbleiben, ist nicht dramatisch, mit Tränen und Beteuerungen, wie er gefürchtet hatte, sondern ernst und feierlich. Schweigend umarmen sie sich, tauschen Botschaften aus, wer weint, versucht es zu verbergen. Er hat angeordnet, daß die Abgänger Essensrationen für vier Tage erhalten, doch der Mangel an Nachschub zwingt ihn, die Rationen auf einen Tag zu begrenzen. Immerhin, sie werden von dem Bataillon Lanzenreiter begleitet, die ihnen unterwegs Essen beschaffen werden. Außerdem wird sie das Dreiunddreißigste Infanteriebataillon eskortieren. Als er sie im ersten Tageslicht fortgehensieht, langsam, jämmerlich, hungrig, mit zerfetzten Uniformen, viele Soldaten barfuß, sagt er sich, daß sie, falls sie unterwegs nicht zusammenbrechen, in noch schlimmerer Verfassung in Monte Santo ankommen werden: vielleicht versteht die Heeresleitung dann, wie kritisch die Lage ist, und schickt Verstärkung.
Nach dem Abzug der Verwundeten herrschen Melancholie und Trauer in den Lagern der Favela und der »schwarzen Linie«. Die Stimmung der Truppe ist gesunken, weil es keine Verpflegung gibt. Die Männer essen Schlangen und Hunde, die sie einfangen, sogar
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