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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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taten und wozu. Aber mit diesem Mann, der neben ihr die Menino Jesus entlanglief, war das anders geworden. Er wollte wissen, was links und rechts und vor und hinter ihm geschah, warum etwas getan oder nicht getan wurde, und um seine Neugier zu befriedigen, die genauso brennend war wie seine Angst, mußte sie es herausfinden. Der junge Jagunço von Cocorobó erklärte ihnen, daß die Hunde seit dem frühen Morgen die Schützengräben am Friedhof angriffen. Zweimal hatten sie angesetzt, und wenn es ihnen auch nicht gelungen sei, sie zu stürmen, so hatten sie doch die Ecke der Gasse Baptista genommen und waren somit von hinten dem Tempel des guten Jesus nahe gekommen. João Abade habe beschlossen, zwischen den Schützengräben am Friedhof und den Kirchen eine neue Barrikade zu errichten für den Fall, daß Pajeú gezwungen wäre, sich weiter zurückzuziehen. Deshalb sammelten sie Leute, deshalb seien sie selbst aus Pedräos Schützengräben gekommen. Der junge Jagunço lief schneller, ihnen voraus. Jurema hörte den kurzsichtigen Journalisten keuchen, sie sah ihn über die Steine und Löcher der Campo Grande stolpern und war sicher, daß er in diesem Augenblick wie sie an Pajeú dachte. Diesmal würden sie ihm begegnen. Sie fühlte, daß der kurzsichtige Journalist ihre Hand drückte, und erwiderte den Druck.
    Sie hatte Pajeú nicht wiedergesehen seit dem Abend, an dem sie das Glück entdeckt hatte. Aber sie und der kurzsichtige Journalist sprachen oft von dem Mann mit dem zerschnittenen Gesicht, denn beide wußten, daß er eine größere Gefahr für ihre Liebe war als selbst die Soldaten. Seit jenem Abend hatten sie sich in Unterkünften im Norden von Canudos verkrochen, der Zone, die am weitesten von Fazenda Velha entfernt war; derZwerg ging herum, um Nachrichten über Pajeú einzuholen. An dem Morgen, als er kam – sie lagen unter einem Blechbüchsendach in der Santo Eloi – und ihnen berichtete, das Heer habe Fazenda Velha angegriffen, hatte Jurema zu dem kurzsichtigen Journalisten gesagt, Pajeú werde seine Schützengräben verteidigen, bis sie ihn umbrächten. Aber noch in derselben Nacht erfuhren sie, daß er und die Überlebenden von Fazenda Velha in den Schützengräben am Friedhof standen, denselben, die jetzt kaum mehr zu halten waren. Also war die Stunde gekommen, in der sie es mit Pajeú würden aufnehmen müssen. Doch nicht einmal dieser Gedanke nahm ihr das Glücksgefühl, das inzwischen, wie ihre Knochen und ihre Haut, Teil ihres Körpers war.
    Wie die Kurzsichtigkeit und die Angst den Mann, den sie an der Hand führte, wie der Glaube, der Fatalismus oder die Gewohnheit die Leute, die noch die Kraft besaßen, laufend, hinkend, gehend hier zusammenzuströmen, um die neue Barriere zu errichten, so rettete sie das Glücksgefühl davor, zu sehen, was rings um sie geschah, nachzudenken und die Schlüsse zu ziehen, die gesunder Menschenverstand, Vernunft oder bloßer Instinkt aus dem Anblick dieser Gassen hätten ziehen müssen, die früher eben und begehbar und jetzt eine Hindernisbahn waren, aufgerissen von Einschlägen, übersät mit den Trümmern dessen, was von Bomben getroffen oder von den Jagunços für den Bau von Schutzwällen eingerissen worden war, mit all diesen am Boden liegenden Gestalten, die kaum noch als Männer oder Frauen zu erkennen waren, weil der Ausdruck in ihren Gesichtern, das Licht in ihren Augen, die Kraft in ihren Muskeln fehlte, die aber aufgrund irgendeiner perversen Absurdität noch am Leben waren. Jurema sah sie und übersah, daß sie da waren, schon verwechselbar mit den Leichen, die fortzuschaffen die alten Männer keine Zeit mehr gefunden hatten und die sich von jenen nur durch die Zahl der Fliegen unterschieden, die auf ihnen saßen, und durch den Grad des Gestanks, den sie ausströmten. Sie sah und übersah die Aasgeier, die über ihnen flatterten und manchmal selbst von Kugeln getroffen wurden, und diese Kinder, die mit den Gesichtern von Schlafwandlern in den Trümmern scharrten oder Erde kauten ... Sie waren lange gelaufen, und als sieanhielten, mußte sie die Augen schließen und sich auf den kurzsichtigen Journalisten stützen, bis die Welt aufhörte, sich vor ihren Augen zu drehen.
    Der kurzsichtige Journalist fragte sie, wo sie waren. Es kostete Jurema Mühe festzustellen, daß diese bis zur Unkenntlichkeit veränderte Gasse die São João war, eine kleine Verbindungsstraße zwischen den Häuschen um den Friedhof und der Rückseite des unvollendeten Tempels. Alles

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