Der Krieg am Ende der Welt
ihn. So war es, oder hatte jedenfalls begonnen, so zu sein, nachdem sie es gesagt hatte. Und von diesem Augenblick an und obwohl sich der Krieg um sie zusammenzog und Hunger und Durst mehr Menschen töteten als die Kugeln, war Jurema glücklich. Mehr, als sie es je gewesen zu sein sich erinnerte, mehr als in ihrer Ehe mit Rufino, mehr als in dieser behüteten Kindheit im Schatten der Baronin Estela in Calumbí. Am liebsten hätte sie sich dem Heiligen zu Füßen geworfen, um ihm zu danken für das, was in ihrem Leben geschehen war.
In der Nähe fielen Schüsse – sie hatte sie im Schlaf die ganze Nacht über gehört –, doch sie bemerkte keinerlei Bewegung auf der kleinen Gasse Menino Jesus, weder das Rennen und Schreien noch auch die wilde Geschäftigkeit, mit der Steine und Sandsäcke herbeigeschafft, Gräben ausgehoben und Dächer und Wände eingerissen wurden, um Schutzwälle zu errichten, wie es in diesen letzten Wochen desto öfter geschehen war, je mehr sich Canudos in sich selbst verkroch und hinter neue, konzentrisch angelegte Barrieren und Schützengräben zurückwich, je mehr Häuser und Gassen und Straßenecken von den Soldaten besetzt wurden und je näher der Kreis der Belagerer sich an die Kirchen und das Sanktuarium heranschob. Aber nichts von alldem war ihr wichtig: sie war glücklich.
Der Zwerg war es gewesen, der entdeckt hatte, daß dieses Bretterhäuschen leerstand, das eingekeilt in zwei größere Häuser in der schmalen Rua Menino Jesus lag, einer Querstraße zwischen der Campo Grande, in der João Abade persönlich jetzt eine dreifache, dicht mit Jagunços besetzte Barrikade überwachte, und der Rua Madre Igreja, die in dem eng gewordenen Canudos dieser Tage die Nordfront bildete. In diesen Sektor hatten sich die Neger aus Mocambo zurückgezogen, das bereits gefallen war, und die wenigen Kariris aus Mirandela und Rodelas, die noch am Leben waren. Nun standen in den Gräben hinter den Schutzwällen in der Madre Igreja Indios und Neger einträchtig neben den Jagunços von Pedrão, der ebenfalls bis hier zurückgewichen war, nachdem er die Soldaten in Cocorobó, in Trabubú und an den Pferchen und Ställen vor der Stadt aufgehalten hatte. Als sich Jurema, der Zwerg und der Journalist in dem Häuschen installierten, fanden sie in dem Erdloch, das in dem einzigen Zimmer ausgehoben war, einen Alten ohne Beine tot über seiner Muskete liegen. Aber sie fanden auch eine Tüte Maismehl und einen Topf voll Honig, mit dem sie geizten, damit er möglichst lange vorhielt. Sie verließen das Haus nur, um Leichen zu den Schächten zu tragen, die Antônio Vilanova als Grabstätten bestimmt hatte, und um bei der Anlage neuer Barrieren und Gräben zu helfen, eine Arbeit, auf die jedermann mehr Zeit verwandte als selbst auf den Krieg. So viele Gräben waren innerhalb und außerhalb der Häuser gegraben worden, daß man praktisch das ganze Gebiet, das von Belo Monte noch übrig war, von Haus zu Haus, von Gasse zu Gasse durchlaufen konnte, ohne aufzutauchen: wie Eidechsen oder Mäuse.
Hinter ihr bewegte sich der Zwerg. Sie fragte ihn, ob er wach sei. Er gab keine Antwort, und kurz darauf hörte sie ihn schnarchen. Die drei schliefen, einer am andern, in dem engen Loch, in dem sie kaum Platz hatten. Sie taten es nicht nur der Kugeln wegen, die mühelos die leicht gebauten Wände durchschlagen konnten, sondern auch, weil nachts die Temperatur sank und ihre von erzwungenem Fasten geschwächten Organismen vor Kälte zitterten. Jurema betrachtete forschend das Gesicht des kurzsichtigen Journalisten, der an ihrer Brust schlief. Sein Mund stand halb offen, und ein feiner Faden Speichel, dünn und durchsichtig wie ein Spinnenfaden, hing von seinen Lippen. Sie streckte den Mund vor und nahm zart, um ihn nicht zu wecken, den Speichelfaden auf. Die Züge deskurzsichtigen Journalisten waren heiter, ein Ausdruck, den er nie hatte, wenn er wach war. Sie dachte: Jetzt hat er keine Angst. Sie dachte: Armes Kind, wenn ich ihm die Angst nehmen, wenn ich etwas tun könnte, damit er nicht mehr erschrickt. Denn er hatte ihr gestanden, daß ihn selbst in den Augenblicken, in denen er mit ihr glücklich war, die Angst nicht verließ, daß sie wie ein Schlamm in seinem Herzen war und ihn folterte. Obwohl sie ihn jetzt liebte, wie eine Frau einen Mann liebt, obwohl sie sich ihm hingegeben hatte, wie eine Frau ihrem Mann, fuhr sie fort, ihn in Gedanken zu umsorgen, zu hätscheln und mit ihm zu spielen wie eine Frau mit ihrem Kind.
Das
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