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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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auch er, wie der kurzsichtige Journalist, sie auf die Hände und die Wangen küßte. Sie würde die Augen nicht schließen, sie würde sterben, wenn sie es tat, aber der Augenblick kam, da sie die Lider nicht mehr offenhalten konnte.
    Als sie die Augen wieder aufschlug, war ihr nicht mehr so kalt. Es war Nacht, der Himmel voller Sterne, eine Vollmondnacht, und sie lehnte sich an den Körper des kurzsichtigen Journalisten, dessen Geruch, Magerkeit und Geräusche sie sofort erkannte. Und da war auch der Zwerg und rieb ihr noch immer die Hände. Benommen gewahrte sie die Freude der beiden Männer, sie bei Bewußtsein zu sehen. Die Augen wurden ihr feucht, so zärtlich fühlte sie sich umarmt und geküßt. War sie verwundet? Krank? Nein, die Müdigkeit sei es gewesen, die lang andauernde Arbeit. Sie befand sich nicht mehr an der gleichen Stelle wie vorher. Während ihrer Ohnmacht hätte die Schießerei plötzlich zugenommen und aus den Schützengräben hinter dem Friedhof seien Jagunços gerannt gekommen. Der Zwerg und der Journalist hätten sie an die Ecke tragen müssen, damit sie nicht getreten würde. Aber die in der São João neu gebaute Barrikade hätten die Soldaten nicht durchbrechen können. Dort hätten die Überlebenden der Kämpfe um den Friedhof und viele Jagunços aus den Kirchen sie aufgehalten. Eben hörte sie den Kurzsichtigen sagen, daß er sie liebe, da sprang die Erde in Stücke. Ihre Nase, ihre Ohren füllten sich mit Staub, sie fühlte sich geschlagen und plattgedrückt werden, denn durch die Gewalt der Explosion waren der Journalist und der Zwerg gegen sie geschleudert worden. Aber sie hatte keine Angst; sie zog sich zusammen unter den Körpern, die auf ihr lagen, und brachte unter Anstrengungen die Laute aus ihrem Mund, die nötig waren, um zu erfahren, ob sie unversehrt seien. Ja, nur zerschunden von einem Hagel kleiner Steine und Erdbrocken und Holzsplitter. Ein wirres, vielstimmiges, mißtönendes Geschrei verkrampfte die Dunkelheit. Der Kurzsichtigeund der Zwerg standen auf, halfen ihr, sich zu setzen, alle drei drückten sich eng an die einzige Wand, die an dieser Straßenecke noch stand. Was war geschehen, was geschah?
    Schatten liefen in alle Richtungen, Schreckensschreie zerrissen die Luft, aber das Seltsame für Jurema, die die Beine angezogen und den Kopf an die Schulter des kurzsichtigen Journalisten gelehnt hatte, war, daß sie in diesem Weinen und Brüllen, in diesen Klagelauten und Jammertönen auch Lachen, Freudenschreie, Hochrufe, Singen hörte und jetzt einen einzigen, von Hunderten von Kehlen angestimmten martialischen Gesang. »Santo Antônio«, sagte der Zwerg. »Sie haben die Kirche getroffen, sie haben sie zerstört.«
    Sie schaute auf und sah in der zarten Helligkeit des Mondlichts, dort, wo sich unter einer Brise, vom Fluß her, die Staubwolken zerteilten, die ihr die Sicht nahmen, die kraftvolle, imposante Silhouette des Tempels des guten Jesus, aber nicht den Glockenturm und das Dach der Kirche Santo Antônio. Das also war das Getöse gewesen. Die Schreckensschreie und Klagerufe kamen von denen, die mit der Kirche gestürzt waren, von denen, die unter der Kirche lagen und noch nicht tot waren. Der kurzsichtige Journalist, der sie immer noch umschlungen hielt, fragte schreiend, was denn dieses Lachen und dieser Gesang bedeuteten, und der Zwerg sagte, es seien die Soldaten, sie seien verrückt vor Freude. Die Soldaten! Das Geschrei, die Lieder der Soldaten! Wie konnten sie so nahe sein? In seinen Ohren verschmolz das Triumphgeheul mit den Wehklagen und schien näher zu sein als dieses. Also standen auf der anderen Seite der Barrikade, an deren Bau sie mitgeholfen hatten, dicht an dicht eine Menge Soldaten, singend und bereit, die wenigen Schritte zurückzulegen, die sie von ihnen drei noch trennten. »Vater«, betete er, »Ich bitte dich, daß sie uns zusammen töten.«
    Doch merkwürdigerweise schien der Einsturz von Santo Antônio den Krieg zu unterbrechen, statt ihn anzuheizen. Ohne sich von ihrer Ecke wegzubewegen, hörten sie Klagerufe und Triumphgeschrei leiser werden, und dann herrschte eine Stille wie schon seit vielen Nächten nicht mehr. Weder Kanonen noch Kugeln waren zu hören, nur noch vereinzeltes Weinen und Stöhnen, als hätten die Kämpfenden eine Waffenruhevereinbart. Manchmal schien es ihr, als ob sie schliefe, und wenn sie aufwachte, wußte sie nicht, ob Sekunden oder Stunden vergangen waren. Jedesmal lag sie an derselben Stelle, geschützt zwischen dem

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