Der Krieg, der viele Vaeter gatte
– ausgenommen Legalisten (Monarchisten) und Kommunisten – den späteren Anschluß ihres Landes als Ziel in die Parteiprogramme auf. Das trifft sowohl auf die Sozialdemokraten, auf die Deutsch-Nationalen, die National-Liberale Bauernpartei als auch auf die Christlich-Sozialen zu, die ab 1934, zur Diktatur-Partei geworden, den Anschluß an das Reich bekämpfen.
Im Deutschen Reich denkt und handelt man in der Anschlußfrage nicht anders als in Tirol, in Salzburg oder Wien. Schon in Weimar, auf der ersten Sitzung der
Bernhardt, Seite 45 IMT Verhandlungen, Band XV, Seite 667
Deutschen Nationalversammlung am 6. Februar 1919, erklärt der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert zu dieser Frage:
„Deutsch-Österreich muß mit dem Mutterland für alle Zeiten vereinigt
werden. ... Unsere Stammes- und Schicksalsgenossen dürfen versichert
sein, daß wir sie im neuen Reich der deutschen Nation mit offenen Armen
und Herzen willkommen heißen. Sie gehören zu uns und wir gehören zu ih
22
nen."
Doch auch der Versailler Vertrag legt fest, daß das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in den zwei besiegten Staaten in dieser Frage nicht vollzogen werden darf. In Artikel 80 des am 28. Juni 1919 unterschriebenen Vertrages heißt es:
„Deutschland anerkennt die Unabhängigkeit Österreichs und wird sie
streng in den durch den gegenwärtigen Vertrag festgelegten Grenzen als
unabänderlich betrachten, es sei denn mit Zustimmung des Rates des Völ
kerbundes."
Der Deutsche Reichstag sieht im Nachsatz „es sei denn mit Zustimmung des Rates des Völkerbunds" die offene Tür für spätere Zeiten. Mit dieser vagen Aussicht fügen die Abgeordneten des Deutschen Reichstags am 11. August
1919 der Weimarer Verfassung den Artikel 61 an, der lautet: „Deutsch-Österreich erhält nach seinem Anschluß an das Deutsche Reich das Recht der Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung ent sprechenden Stimmenzahl. Bis dahin haben die Vertreter Deutsch-Öster reichs beratende Stimme."
So spricht die Weimarer Verfassung mit Artikel 61 vom kommenden Anschluß Österreichs, wie 30 Jahre später das Bonner Grundgesetz vom „Beitritt der anderen Teile Deutschlands" in Artikel 23. Nur fünf Wochen danach, am 22. September 1919, muß der Deutsche Reichstag die Weimarer Verfassung auf Druck der Siegermächte wieder ändern und Artikel 61 streichen.
Der von Bauer und Graf Brockdorff-Rantzau geschlossene deutsch-österreichische Vereinigungsvertrag vom November 1918 wandert, ohne daß ihn die Parlamente in Berlin und Wien je ratifizieren können, als totes Dokument in die Archive. Doch das Gefühl, mit den Menschen in Österreich zusammenzugehören, bleibt den Bürgern und Parteien im Deutschen Reich erhalten. Noch 1932 bezeichnet der Reichstagsabgeordnete und spätere Bundespräsident Theodor Heuss den „großdeutschen Gedanken" der Zusammengehörigkeit mit Österreich als eine der wenigen Ideen, die die Parteien der Weimarer Republik miteinander tragen 23 .
Aus der Sicht der Sieger hat das Verbot der deutsch-österreichischen Vereinigung zunächst durchaus einen Sinn. Mit einem angeschlossenen Österreich hätte das besiegte Deutschland seine Verluste an Land und Menschen wieder ausgegli
Bernhardt, Seite 31 Heuss, Seite LX
chen. Doch dieses Rechenspiel der Sieger mißachtet ihre selbst aufgestellte Regel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Außerdem soll ein unabhängiges Österreich helfen, Deutschlands Wirtschaft aus den Ländern des Donau- und Balkanraumes fernzuhalten.
Das Nachkriegsösterreich
Die 20er Jahre sind für Österreich arm und bitter. Das wirtschaftliche Netzwerk Habsburgs ist zerschlagen. Die sudetendeutsche Industrie in der Tschechoslowakei und die Landwirtschaftsgebiete Ungarns sind von Österreich abgeschnitten. Der österreichischen Industrie fehlt umgekehrt der alte Absatzmarkt im Donauraum. Deutschsprachige Beamte und Soldaten strömen in großen Zahlen aus den nicht deutschen Fürstentümern Habsburgs zurück ins Kernland Österreich, ohne daß sich ihnen dort Lohn und Arbeit bietet. Die Lebenshaltungskosten steigen, Nahrungsmittel werden knapp, die Zahl der Arbeitslosen klettert auf 800.000, die erfolglos nach Beschäftigung suchen, und die Auslandsschulden Österreichs sind bald nicht mehr abzutragen. Die sozialdemokratische Regierung unter Dr. Renner kann die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes nicht lösen und muß 1920 einer Koalitionsregierung aus kirchennahen,
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