Der Krieg, der viele Vaeter gatte
Bundeskanzler Dollfuß durch die Kugeln, die ein österreichischer Nationalsozialist auf ihn abgefeuert hat. 27
Die Bevölkerung nimmt mit Abscheu vom Verbrechen an ihrem Bundeskanzler Kenntnis. Der von allen österreichischen Demokraten bis dahin abgelehnte Diktator Dollfuß wird über Nacht zum Märtyrer der Nation, und die Nationalsozialisten trifft die berechtigte Empörung der Menschen in ganz Österreich. Rintelen, der Mitverschwörer, bekommt 25 Jahre Haft. Der Todesschütze und mit ihm weitere 12 Putschisten werden zum Tode verurteilt und bald hingerichtet. Der Todesschütze erklärt unter seinem Galgen stehend nochmals, er habe nie die Absicht gehabt, Bundeskanzler Dollfuß umzubringen. Er habe nur geschossen, weil er sich angegriffen fühlte.
Der Tod des Bundeskanzlers Dollfuß belegt die Nationalsozialisten Österreichs mit dem Odium des Verbrechens und des Putsches. Ihr Ansehen sinkt und damit auch die Attraktivität des von ihnen propagierten Anschlusses an das Deutsche Reich. Zu allem Unglück wird Deutschland nach den Schüssen auf den Diktator Dollfuß noch in den Fall verwickelt. Als der Versuch, Dollfuß festzunehmen, auf so tragische Weise fehlgeschlagen ist, werden die Putschisten im Ballhaus von Polizei und Militär umzingelt. Sie verlangen freien Abzug über die Grenze nach Bayern und drohen, sich bei Verweigerung des Abzugs mit ihren Waffen zu verschanzen. Zunächst wird freier Abzug zugesichert. Die Putschisten trauen dem Versprechen nicht und rufen den deutschen Botschafter in Wien zur Garantie und Überwachung ihres Abzugs telefonisch in das Ballhaus. Der Botschafter sagt spontan zu, sich einzuschalten, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Er kommt damit zwar nicht mehr zum Zuge, doch mit dem Fluchtbegehren der Putschisten nach Deutschland und mit dem Auftreten des deutschen Botschafters ist
Benoist- Méchin, Band 5, Seite 151
das Deutsche Reich für jedermann in Österreich und für die ganze Welt in diesen Putsch verstrickt. Es entsteht der falsche Eindruck, als seien die Fäden für die Affäre und für den Tod des Bundeskanzlers von deutschen Stellen aus gezogen worden. Das ist ein Dämpfer für den in Österreich bis dahin allgemein gehegten Wunsch nach einem Anschluß an das Deutsche Reich.
Der Ära Dollfuß folgt die Ära Schuschnigg. Das österreichisch-deutsche Verhältnis ist nach dem Tode Dollfuß' zunächst für die Dauer von zwei Jahren tiefgefroren. Auch unter Bundeskanzler Schuschnigg gibt es keine freien Wahlen. Die Alleinherrschaft der aus der Christlich-Sozialen Partei hervorgegangenen „Vaterländischen Front" wird nun christlich-diktatorisch ausgerichtet. Auch Schuschnigg versucht, eine Vereinigung Österreichs mit Deutschland zu verhindern.
Erst im Sommer 1936 kommt es unter dem sanften Druck Italiens zu einem Wiederannäherungsversuch der beiden deutschsprachigen Staaten. Am 11. Juli
36 unterzeichnen Bundeskanzler von Schuschnigg und der deutsche Sondergesandte für Österreich von Papen ein Deutsch-Österreichisches Abkommen über die Normalisierung und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten. Deutschland erkennt darin die „volle Souveränität des Bundesstaates Österreich" an, und Österreich bekennt sich ausdrücklich dazu, ein deutscher Staat zu sein. Im Zusatz zum Abkommen sichert Schuschnigg schriftlich zu, „Vertreter der bisherigen sogenannten Nationalen Opposition in Österreich" zur Mitwirkung an der politischen Verantwortung heranzuziehen. Hitler kommentiert das Abkommen gegenüber dem Führer der österreichischen Nationalsozialisten Josef Leopold mit den Worten:
„Dieses neue Abkommen nehme ich sehr ernst. Die österreichischen Na
tionalsozialisten müssen eine mustergültige Disziplin bewahren und den
Anschluß als eine innerösterreichische Angelegenheit betrachten, und ver
suchen, auf diesem Wege in Österreich Fortschritte zu machen." 28
Hitler hält den späteren Anschluß Österreichs für eine zwangsläufige Folge des in der Vergangenheit so oft bekundeten Willens der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung. Die von Deutschland anerkannte Souveränität des Bundesstaates Österreich steht dem nach Hitlers Ansicht nicht entgegen. Hitler ist sich sicher, daß der Anschluß Österreichs eines Tages die freie und souveräne Entscheidung einer österreichischen Regierung sein wird. Doch er soll sich täuschen. Bedauerlicher Weise kann das Abkommen vom 11. Juli die deutschösterreichischen Differenzen
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