Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
nahe kam, dann rissen sie einen in Stücke, darauf waren sie ja abgerichtet, aber nun rührten sie sich nicht von der Stelle. Meine Tochter umarmte mich, ich weinte nicht, ich sagte nur: ›Mein Kind! Nataschenka, nicht weinen. Ich bin bald wieder zu Hause.‹ Die Wachleute standen da und die Hunde. Und keiner rührte sie an ...
Auch da habe ich nicht geweint ...
Meine Tochter sprach mit fünf keine Gedichte, sondern Gebete. Das brachte Tante Dascha ihr bei. Sie betete für Papa und Mama, dass wir am Leben blieben.
Vierundvierzig, am dreizehnten Februar, wurde ich zur faschistischen Zwangsarbeit ins Konzentrationslager Croisette am Ärmelkanal gebracht. Am achtzehnten März, dem Tag der Pariser Kommune, organisierten die Franzosen unsere Flucht, und ich ging zum Maquis. Ich erhielt den französischen Orden ›Kreuz der Ehrenlegion‹ ...
Nach dem Sieg kehrte ich heim ... Ich erinnere mich ... Der erste Halt auf russischem Boden ... Wir sprangen alle aus dem Zug, wir küssten den Boden, umarmten ihn ... Ich erinnere mich: Ich trug einen weißen Kittel, ich fiel auf die Erde, küsste sie und stopfte mir ganze Hände voll unter den Kittel. Nie wieder, dachte ich, nie wieder werde ich mich von ihr trennen, von meiner Heimaterde ...
Ich kam nach Minsk, doch mein Mann war nicht zu Hause. Meine Tochter war noch bei Tante Dascha. Mein Mann war vom NKWD verhaftet worden. Ich ging hin ... Was ich mir dort anhören musste ... Sie sagten: ›Ihr Mann ist ein Verräter.‹ Dabei hatten mein Mann und ich zusammen im Untergrund gearbeitet. Zu zweit. Er war ein mutiger, anständiger Mensch. Jemand musste ihn denunziert haben ... Verleumdet ... ›Nein‹, sagte ich, ›mein Mann kann kein Verräter sein. Ich vertraue ihm. Er ist ein aufrechter Kommunist.‹ Der zuständige Ermittler brüllte mich an: ›Mund halten, Franzosenhure! Mund halten!‹ Alle, die in Gefangenschaft gewesen waren oder in der Okkupation gelebt hatten, standen unter Verdacht. Dass wir gekämpft hatten, spielte keine Rolle. Das Volk hatte gesiegt, aber Stalin vertraute dem Volk trotzdem nicht. So dankte uns die Heimat ... Für unsere Liebe, für unser Blut ...
Ich lief rum ... Schrieb an alle Instanzen. Nach einem halben Jahr wurde mein Mann entlassen. Eine Rippe gebrochen, eine Niere gesenkt ... Die Faschisten hatten ihm den Kopf eingeschlagen und einen Arm gebrochen, dort war er ergraut, und fünfundvierzig wurde er beim NKWD endgültig zum Krüppel gemacht. Ich habe ihn jahrelang gepflegt, seine Krankheiten kuriert. Aber ich durfte kein Wort dazu sagen, davon wollte er nichts hören ... ›Das war ein Irrtum‹, sagte er nur. Hauptsache, meinte er, wir haben gesiegt. Und Punkt. Und ich glaubte ihm ...
Ich habe nicht geweint. Damals habe ich nicht geweint ...«
Ljudmila Michailowna Kaschetschkina ,
Untergrundkämpferin
»Wie erklärt man das einem Kind? Wie erklärt man ihm den Tod?
Ich ging mit meinem Sohn die Straße entlang, und da lagen Tote – auf beiden Seiten der Straße. Ich erzählte ihm von Rotkäppchen, und überall lagen Tote. Das war, als wir von der Flucht heimkehrten. Wir kamen bei meiner Mutter an, und er benahm sich ganz seltsam: Kroch unters Bett und kam tagelang nicht raus. Er war fünf Jahre alt, und er wollte nicht mehr auf die Straße raus ...
Ein Jahr plagte ich mich mit ihm. Ich konnte nicht herausfinden, was los war. Wir wohnten in einem Keller, wenn jemand die Straße entlanglief, sahen wir nur die Stiefel. Einmal kam er unterm Bett vorgekrochen, sah ein Paar Stiefel im Fenster und schrie ... Später fiel mir ein, dass ein Faschist ihn mal mit einem Stiefel getreten hatte ...
Na, irgendwie ging das mit ihm vorbei. Er spielte auf dem Hof mit den anderen Kindern, und einmal kam er nach Hause und fragte: ›Mama, was ist ein Papa?‹
Ich erklärte es ihm: ›Unser Papa ist hell und schön und kämpft in der Armee.‹
Als Minsk befreit wurde, kamen als Erstes Panzer in die Stadt. Mein Sohn kam heulend nach Hause gerannt.
›Mein Papa ist nicht dabei! Sie sind alle dunkel, keiner ist hell!‹
Es war Juli, die Panzerfahrer waren jung und braun gebrannt.
Mein Mann kam als Invalide aus dem Krieg. Er war nicht mehr jung, er war alt, und ich hatte meine liebe Not: Der Sohn dachte immer, sein Vater sei hell und schön, und nun war er ein kranker alter Mann. Er wollte ihn lange nicht als seinen Vater akzeptieren. Er wusste nicht, wie er ihn anreden sollte. Ich musste sie erst behutsam aneinander gewöhnen.
Wenn mein Mann
Weitere Kostenlose Bücher