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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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schon den Strick ... Du darfst nicht weinen, darfst keine Sekunde stehen bleiben, denn überall sind Spitzel. Da brauchte man viel – das Wort passt hier gar nicht – viel Mut, seelische Kraft, um still zu bleiben. Um nicht zu schreien. Nicht zu weinen ...
    Damals habe ich nicht geweint ...
    Ich wusste, worauf ich mich einließ, aber so richtig zu spüren bekam ich das erst, als ich vom SD verhaftet wurde. Sie traten mich mit Stiefeln, schlugen mich mit Peitschen. Ich erfuhr, was die Faschisten ›Maniküre‹ nannten: Sie legen deine Hände auf den Tisch, und dann treibt eine Maschine dir Nadeln unter die Fingernägel ... Unter alle gleichzeitig. Ein höllischer Schmerz. Man verliert sofort das Bewusstsein. Ich kann mich nicht einmal mehr genau daran erinnern, nur an den höllischen Schmerz, was danach war, weiß ich nicht mehr. Dann das Strecken zwischen Balken. Vielleicht heißt das anders, ich weiß nicht. Jedenfalls erinnere ich mich an Folgendes: Hier ein Balken und da einer, und dich legen sie dazwischen ... Und dann ist da eine Maschine. Du hörst, wie deine Knochen knirschen und ausgerenkt werden ...Wie lange? Auch daran erinnere ich mich nicht ... Die Folterung auf dem elektrischen Stuhl ... Das war, nachdem ich einem der Henkersknechte ins Gesicht gespuckt hatte ... Ob er jung war oder alt – keine Ahnung. Sie hatten mich nackt ausgezogen, und er trat auf mich zu und griff nach meiner Brust ... Ich war hilflos ... Ich konnte nur spucken ... Ich spuckte ihm ins Gesicht. Dafür setzten sie mich auf den elektrischen Stuhl ...
    Seitdem kann ich elektrischen Strom schlecht vertragen. Ich erinnere mich, wie es ist, wenn du anfängst zu zucken ... Heute kann ich nicht einmal bügeln ... Das ist mir fürs ganze Leben geblieben. Wenn ich anfange zu bügeln, spüre ich den Strom im ganzen Körper ... Ich kann nichts machen, was mit Strom zu tun hat. Vielleicht hätte ich nach dem Krieg eine Psychotherapie gebraucht? Ich weiß nicht. Aber nun habe ich mein Leben auch so gelebt ...
    Ich weiß nicht, warum ich heute dauernd weine. Damals habe ich nicht geweint ...
    Ich wurde zum Tod durch Erhängen verurteilt. Sie brachten mich in eine Todeszelle. Dort waren schon zwei Frauen. Wissen Sie, wir haben nicht geweint, sind nicht in Panik ausgebrochen: Als wir in den Untergrund gingen, wussten wir schließlich, was uns erwartet, darum verhielten wir uns ruhig. Wir sprachen über Poesie, erinnerten uns an unsere Lieblingsopern ... Wir redeten viel über Anna Karenina ... Über die Liebe ... Wir sprachen nicht einmal über unsere Kinder, wir hatten Angst, an sie zu denken. Wir lächelten sogar, machten uns gegenseitig Mut. So verbrachten wir zweieinhalb Tage ... Am Morgen des dritten Tages holten sie mich ab. Wir verabschiedeten uns, küssten uns ohne Tränen. Angst empfand ich nicht – offenbar hatte ich mich schon so an den Gedanken an den Tod gewöhnt, dass ich keine Angst mehr hatte. Und auch keine Tränen mehr. Ich empfand Leere. Ich konnte an niemanden mehr denken ...
    Wir waren lange unterwegs, ich weiß nicht einmal mehr, wie lange, schließlich nahm ich Abschied vom Leben ... Aber als das Auto hielt, konnten wir, etwa zwanzig Leute, nicht mehr runterklettern, so erschöpft waren wir. Sie warfen uns wie krepierte Hunde auf die Erde, und der Kommandant befahl uns, zu den Baracken zu kriechen. Er trieb uns mit der Peitsche an ... Vor einer Baracke stand eine Frau und stillte ein Kind. Und irgendwie, wissen Sie ... Die Hunde, die Wachleute, alle standen wie erstarrt und rührten sie nicht an. Der Kommandant sah das ... Er sprang auf die Mutter zu, riss ihr das Kind weg ... Wissen Sie, da war so eine Pumpe, eine Wasserpumpe, und er schlug das Kind gegen dieses Eisenrohr. Das Gehirn spritzte raus ... Die Milch ... Ich sah, wie die Mutter umfiel, ich sah es und begriff – ich bin schließlich Ärztin ... Ich wusste, ihr Herz hatte das nicht ausgehalten ...
    Wir wurden zur Arbeit geführt. Durch die ganze Stadt, durch vertraute Straßen. Wir liefen bergab, an einer Stelle war die Straße sehr steil, plötzlich hörte ich einen Schrei: ›Mama, Mamotschka!‹ Da stand meine Tante Dascha, und meine Tochter kam vom Bürgersteig auf mich zugerannt. Sie waren zufällig die Straße entlanggelaufen und hatten mich entdeckt. Meine Tochter umschlang meinen Hals. Und stellen Sie sich vor, die Hunde, die darauf dressiert waren, Menschen anzufallen, kein einziger Hund rührte sich von der Stelle. Normalerweise, wenn man denen zu

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